a) Grundsätze
Rz. 21
Seit dem grundlegenden Urteil des BGH vom 30.9.1993 sind nunmehr bei Verletzung von Beratungspflichten im Rahmen echter Anwaltsverträge folgende Grundsätze maßgeblich:
Rz. 22
(1) Es spricht der Anscheinsbeweis dafür, dass der Mandant bei pflichtgemäßer Beratung des Anwalts dessen Hinweisen gefolgt wäre, sofern für ihn bei vernünftiger Betrachtungsweise aus damaliger Sicht nur eine Entscheidung nahe gelegen hätte. Um dies beurteilen zu können, müssen die Handlungsalternativen miteinander verglichen werden, die für ihn nach pflichtgemäßer Beratung zur Verfügung gestanden hätten. Diese Rechtsfolge muss der steuerliche Berater in gleicher Weise gegen sich gelten lassen. Die Regeln des Anscheinsbeweises sind jedoch unanwendbar, wenn nicht nur eine einzige verständige Entschlussmöglichkeit bestanden hätte, also verschiedene Handlungsweisen in Betracht gekommen wären, die für den Mandanten mit unterschiedlichen Vorteilen und/oder Risiken verbunden gewesen wären. Dies gilt unabhängig davon, ob eine Beratung geschuldet war oder die Aufgabe lediglich darin bestand, dem Mandanten die erforderliche fachliche Information für eine sachgerechte Entscheidung zu erteilen.
Rz. 23
(2) Greift die Vermutung eines beratungsgerechten Verhaltens des Mandanten ein, kann der Berater die Vermutung entkräften, indem er Tatsachen beweist, die für ein atypisches Verhalten des Mandanten sprechen; dann besteht wieder die volle Beweislast des Mandanten für den haftungsausfüllenden Ursachenzusammenhang. Entsprechende Voraussetzungen sind grds. dann zu bejahen, wenn der Mandant einen richtigen Vorschlag des Anwalts abgelehnt hat. Wer der in Anspruch genommenen Partei schuldhaft die Möglichkeit beschneidet, den Anscheinsbeweis zu erschüttern, kann sich nicht auf diese Beweiserleichterung berufen.
Rz. 24
Was das im Einzelnen bedeutet, lässt sich an dem BGHZ 123, 311 zugrunde liegenden Sachverhalt aus der Steuerberaterhaftung als Beispielsfall verdeutlichen:
Beispiel
Die Klägerin war zusammen mit N. Gesellschafter einer OHG. Die Klägerin war daran interessiert, aus der Gesellschaft auszuscheiden. Sie beauftragte den Beklagten, sie in allen damit zusammenhängenden steuerlichen Fragen zu beraten. N. war bereit, ihr eine Barabfindung von 90.000,00 DM zu zahlen und Darlehensschulden der Klägerin von 350.000,00 DM zu übernehmen. Der Beklagte erklärte der Klägerin, sie müsse nur wegen der Abfindung mit Steuern (ca. 9.000,00 DM) rechnen. Das Finanzamt behandelte jedoch auch die Freistellung von der Verbindlichkeit als Veräußerungsgewinn und setzte Steuern i.H.v. insgesamt 100.000,00 DM fest. Der Beklagte hätte der Klägerin als günstigste Lösung raten müssen, als stille Gesellschafterin in der OHG zu verbleiben. Die Klägerin behauptet, sie wäre einem entsprechenden Rat gefolgt.
1. Alt:
Der Beklagte bestreitet die Behauptung mit Nichtwissen. Das ist zwar zulässig (§ 138 Abs. 4 ZPO), bringt ihm aber nichts; weil nur eine Entscheidung wirtschaftlich vernünftig war, gilt zugunsten der Klägerin der Anscheinsbeweis, dass sie sich beratungsgemäß verhalten hätte.
2. Alt:
Der Beklagte wendet ein, die Klägerin hätte auch bei richtiger Beratung die Gesellschaft verlassen, weil sie und N. damals heillos zerstritten gewesen seien, und legt dies substanziiert dar. Die Klägerin räumt die Zerstrittenheit ein. Dann fehlt es an einem Sachverhalt, der den Anscheinsbeweis begründet; denn in diesem Fall war das Verbleiben als stille Gesellschafterin nach der Lebenserfahrung nicht nahe liegend.
3. Alt:
Das Vorbringen des Beklagten ist streitig. Hier ist die Darstellung der Klägerin geeignet, den Anscheinsbeweis zu begründen. Der Beklagte trägt jedoch Tatsachen vor, die den Anscheinsbeweis zu entkräften vermögen. Gelingt dem Beklagten der Beweis dieser Indiztatsachen, obliegt der Klägerin nunmehr der volle Kausalitätsnachweis. Bleibt der Beklagte dagegen beweisfällig, hat die Klägerin den Anscheinsbeweis geführt.
Rz. 25
(3) Ein Anscheinsbeweis zugunsten des Mandanten kommt nicht nur dann in Betracht, wenn der Anwalt eine bestimmte Empfehlung zu geben hatte. Hatte der Anwalt seinen Auftraggeber lediglich umfassend über die Rechtslage zu belehren, verblieb für den Mandanten aber bei vertragsgerechter Information nur eine sinnvolle Entscheidung, so liegt ebenfalls ein in gleicher Weise typischer Sachverhalt vor.
Rz. 26
(4) Zugunsten des Mandanten ist prima facie anzunehmen, dass er dem Anwalt die benötigte Information vollständig erteilt hätte, wenn dieser seine Beratungs- und Aufklärungspflichten sachgerecht wahrgenommen hätte.
Rz. 27
(5) Darüber hinaus ist im Bereich der übrigen Pflichtverletzungen des Anwalts ebenfalls zu prüfen, ob nach der Lebenserfahrung ein bestimmtes Verhalten des Mandanten nahe liegt, wenn der Anwalt seine vertraglichen Pflichten erfüllt hätte. Ist dies zu bejahen, kann dort ebenfalls mit dem Anscheinsbeweis gearbeitet werden. Dies kommt insb. in Betracht, wenn einem Anwalt ein grober Fehler unterlaufen ist.