aa) Allgemeine Tendenz
Rz. 29
Der IX. Zivilsenat des BGH macht von der Möglichkeit des Anscheinsbeweises eher zurückhaltend Gebrauch. Aus der neueren Rechtsprechung ist die Tendenz erkennbar, diese Beweiserleichterung mit Vorsicht anzuwenden, nämlich nur in klar und eindeutig liegenden Ausgangslagen. Dem ist zuzustimmen, weil die Rechtsprechung zur Vermutung beratungsgerechten Verhaltens eine Ausnahme zu dem allgemeinen Grundsatz bildet, dass es keinen Anscheinsbeweis für individuelle Verhaltensweisen von Menschen in bestimmten Lebenslagen gibt.
bb) Steuerliche Beratung
Rz. 30
Besonders bei steuerlicher Fehlberatung ist es häufig nicht gerechtfertigt, mittels des Anscheinsbeweises anzunehmen, dass die Pflichtverletzung für den behaupteten Schaden ursächlich war, weil dem Mandanten bei sachgerechtem Handeln des Beraters mehrere Handlungsalternativen zur Verfügung standen. Der Umstand, dass der Steuerberater den Verkauf eines Grundstücks fehlerhaft als steuerlich unschädlich bezeichnet hat und der Mandant weder aus wirtschaftlichen noch aus sonstigen Gründen zu einer Veräußerung gezwungen war, begründet keinen Anscheinsbeweis dafür, dass er bei sachgerechter Beratung vom Verkauf abgesehen hätte. Dies gilt selbst dann, wenn er erwarten konnte, bei einer späteren Veräußerung einen deutlich höheren Gewinn zu erzielen. Da zahlreiche Faktoren für die Entscheidung, ein Grundstück zu veräußern oder es zu behalten, bedeutsam werden können, ist in diesen Fällen grds. von einem Sachverhalt auszugehen, der nicht die Annahme eines Anscheinsbeweises rechtfertigt. Behauptet der Mandant, er hätte bei zutreffender steuerlicher Beratung die nachteiligen Folgen einer Betriebsaufspaltung vermieden, indem er wesentlich Teile des Betriebsvermögens auf seine Ehefrau übertragen hätte, muss er dies nach § 287 ZPO beweisen, weil in einem solchen Falle auch andere vernünftige Verhaltensweisen in Betracht kommen. Wird die Auftraggeberin nicht hinreichend über das Risiko einer verdeckten Sacheinlage belehrt, scheidet ein Anscheinsbeweis für ihr Verhalten bei richtiger Beratung aus, wenn für Gesellschafter oder Geschäftsführer mehrere vertretbare Handlungsalternativen in Betracht kamen.
cc) Insolvenzreife
Rz. 31
Hat der rechtliche Berater pflichtwidrig nicht auf die Insolvenzreife des Unternehmens hingewiesen, scheidet ein Anscheinsbeweis i.d.R. aus, weil bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise unterschiedliche Maßnahmen beschlossen werden konnten. Die Gesellschaft hätte Insolvenzantrag stellen oder innerhalb der Frist des § 15a Abs. 1 Satz 1 InsO eine Umstrukturierung durch Zuführung weiterer Mittel vornehmen können, um eine Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebes sicherzustellen. War dagegen bei vernünftiger Betrachtungsweise die Möglichkeit einer finanziellen Sanierung von vornherein ausgeschlossen, kann ein Anscheinsbeweis für das Handeln bei sachgerechter Beratung in Betracht kommen.
dd) Rechtskundiger Mandant
Rz. 32
Die zum Anscheinsbeweis geltenden Grundsätze finden auch dann Anwendung, wenn der Mandant rechtskundig und sogar als Rechtsanwalt zugelassen ist. Ein Mandant, der selbst Jurist ist, wird einem rechtlich zutreffenden Hinweis des Beraters auf einen Gesichtspunkt, den er selbst übersehen hat, regelmäßig ebenso folgen wie ein juristischer Laie, der die Rechtslage nicht überblicken kann. Davon ist sogar dann auszugehen, wenn die Geschäftsführer der Mandantin in derselben Sozietät tätig sind wie der Anwalt, der sie unzutreffend beraten hat.
ee) Höchstpersönlicher Lebensbereich
Rz. 33
Geht es um Entscheidungen im höchstpersönlichen Lebensbereich, die nicht nur von wirtschaftlichen Überlegungen, sondern von ganz individuell geprägten Erwägungen beeinflusst werden – z.B. Fragen der Eheschließung oder des Kirchenaustritts –, ist der Anscheinsbeweis grundsätzlich nicht anwendbar.
ff) Weitere Einzelfälle
Rz. 34
Behauptet der Mandant, der ein Hausgrundstück erworben hat, für das eine Mietoptionsklausel bestand, über deren Bedeutung er nicht belehrt wurde, er hätte bei pflichtgemäßer Beratung das Grundstück aus diesem Grunde nicht erworben, muss er dies nach § 287 ZPO beweisen, wenn den Umständen nach andere Alternativen als vernünftige Verhaltensweisen nicht fernlagen. Verlangt ein Arzt von seinem Anwalt Schadensersatz, weil dieser ihn nicht ausreichend über die Rechtsfolgen der Rückgabe ein...