Rz. 74
Dieser Begriff bezeichnet den Einwand, der real bewirkte Schaden wäre später durch einen anderen Umstand, die sog. Reserveursache, ebenfalls herbeigeführt worden. Ursächlich für den Schaden ist nur das tatsächliche Erstereignis. Die Reserveursache konnte sich nicht mehr auswirken, weil der vermögensrechtliche Nachteil schon eingetreten war. Die Frage betrifft folglich nicht die Kausalität, vielmehr handelt es sich um ein reines Zurechnungsproblem.
Rz. 75
Während die Rechtsprechung des Reichsgerichts die Reserveursache grds. als unbeachtlich behandelte, hat sich in der Rechtsprechung des BGH eine differenzierte Beurteilung durchgesetzt. An der genannten Regel wird zwar im Grundsatz festgehalten. Jedoch wurden Fallgruppen herausgebildet, in denen die hypothetische Ursache rechtliche Bedeutung gewinnt, weil ansonsten der Geschädigte ungerechtfertigt besser stände und der Schädiger unbillig belastet würde.
Rz. 76
Das gilt v.a. für die sog. Schadensanlagefälle, in denen die pflichtwidrige Handlung eine bereits weitgehend entwertete Sache betraf. War der zerstörte oder beschädigte Gegenstand schon im Zeitpunkt des haftungsbegründenden Ereignisses mit einer Schadensanlage behaftet, die später zum gleichen Ergebnis geführt hätte, so ist diese Tatsache nach ständiger Rechtsprechung für die Frage, ob und in welchem Umfang ein Schaden entstanden ist, zu berücksichtigen. Dasselbe gilt bei vermögensrechtlichen Daueransprüchen, z.B. auf Ersatz des Verdienstausfalls oder auf Schadensersatzrenten, wenn feststeht, dass der Berechtigte von einem bestimmten Zeitpunkt an auch ohne die vom Schädiger zu verantwortende Handlung die Voraussetzungen für die Einkünfte, deren Ersatz er verlangt, nicht mehr erfüllt hätte. Hat die Klage des Arbeitnehmers gegen eine ungerechtfertigte Kündigung infolge eines Anwaltsfehlers keinen Erfolg, ist der Umstand, dass der Mandant die Stelle aus persönlichen Gründen ohnehin alsbald hätte aufgeben müssen, für die Frage erheblich, welcher Schaden ihm aus der Pflichtverletzung seines Beraters entstanden ist. War das benachteiligte Unternehmen nicht lebensfähig, hätte es wegen mangelnder Rentabilität oder wachsender Verschuldung auf jeden Fall binnen Kurzem liquidiert werden müssen, ist dies ebenfalls haftungsrechtlich zu berücksichtigen.
Hätte dagegen der hypothetische Ursachenverlauf zu einem Ersatzanspruch des Betroffenen gegen einen Dritten geführt, kann dies denjenigen, der pflichtwidrig gehandelt hat, nicht entlasten, weil sonst der Geschädigte leer ausginge.
Rz. 77
Derjenige, der für den Schaden in Anspruch genommen wird, hat die hypothetische Geschehenskette zu beweisen; insoweit gilt ebenfalls § 287 ZPO. Die bloße Möglichkeit eines hypothetischen Ereignisses bleibt immer rechtlich unbeachtet.
Rz. 78
Fragen des hypothetischen Kausalverlaufs tauchen im Haftungsrecht der rechtsberatenden Berufe fast nur dort auf, wo es darum geht, wie der Vorprozess bei sachgerechtem Verhalten des Anwalts geendet hätte, und gehören dann i.d.R. zur Schadensproblematik (vgl. Rdn 105 ff.).
Rz. 79
In unmittelbarem Zusammenhang mit der pflichtwidrigen Handlung stellt sich das Problem in den nachfolgenden Beispielen:
Beispiele
(1) |
Eine Bank hatte auf einem Anderkonto eines Notars 20 Mio. DM zur Finanzierung eines Grundstückskaufs zur Verfügung gestellt. Der Notar zahlte den Betrag aus, bevor die von der Bank im Treuhandvertrag festgelegten Voraussetzungen erfüllt waren. Gegen den Schadensersatzanspruch wendet der Notar ein, die Bank wäre, wenn die Auszahlungsvoraussetzungen nicht eingetreten wären, in derselben Höhe aus einer in diesem Zusammenhang dem Verkäufer erteilten Bürgschaft in Anspruch genommen worden. |
(2) |
Durch Verschulden des Anwalts sind die Vertragsverhandlungen gescheitert; der Mandant fordert Schadensersatz. Der Anwalt macht geltend, der Mandant wäre nicht in der Lage gewesen, den gültigen Vertrag zu erfüllen, sodass der andere Teil zurückgetreten wäre. |
Rz. 80
In beiden Fällen ist die Berufung auf den hypothetischen Kausalverlauf beachtlich, sofern dem Berater der entsprechende Beweis gelingt. Die rechtliche und wirtschaftliche Situation der Bank ist infolge der zusätzlich erteilten Bürgschaft bei wertender Betrachtungsweise ebenso einzuschätzen wie ein schon mit einer Schadensanlage belastetes Rechtsgut. Im zweiten Fall liegt der hypothetische Ablauf in einem Bereich, der vom Geschädigten selbst zu verantworten ist. Davon unberührt bleiben die Ansprüche, die sich daraus ergeben, dass der Mandant Nachteile erlitten hat (z.B. durch verfrühte Zahlung), die selbst dann eingetreten wären, wenn sich der hypothetische Verlauf realisiert hätte.