Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 154
Fallbeispiel 66: Der Pflichtteilsanspruch und das Berliner Testament
Der Vater des A verstarb Anfang 2019. A beantragte nach Bezug von Arbeitslosengeld 2020 die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II.
Die Eltern des A hatten ein Testament verfasst. Darin setzten sie sich gegenseitig zu "Alleinerben (Vollerben)" ein. Erben des Längstlebenden sollten die beiden gemeinsamen Kinder der Eheleute sein. Sollte eines der Kinder vom Nachlass des Erstverstorbenen seinen Pflichtteil fordern, so sollte es auch vom Nachlass des Überlebenden den Pflichtteil erhalten. Sein Erbteil sollte dann dem anderen Kind zuwachsen. Die Mutter des A erhält Hinterbliebenenrenten nach ihrem verstorbenen Ehemann in Höhe von 900 EUR.
Das Jobcenter lehnte die Gewährung von Leistungen ab. Nach § 2303 BGB habe A einen Anspruch auf seinen Pflichtteil an dem Erbe der Mutter. Dieser Anspruch stelle einen Vermögenswert dar und sei zur Sicherstellung des Lebensunterhalts einzusetzen. A meint, er könne seiner Mutter die Geltendmachung des Pflichtteilsanspruchs auf gar keinen Fall zumuten.
Rz. 155
Falllösung Fallbeispiel 66:
A hat einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach § 19 SGB II, wenn er seinen Lebensunterhalt nicht aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann (§ 9 Abs. 1 SGB II).
A ist auf den Tod des Vaters enterbt. Ihm steht nach § 2303 BGB ein Pflichtteilsanspruch zu, der noch nicht verjährt ist.
Der Pflichtteilsanspruch ist ein Anspruch in Geld. Er ist vor der Bedürftigkeit des A entstanden und damit Vermögen im Sinne des SGB II. So hat ihn das BSG in dem vorstehenden Sachverhalt behandelt. Die Forderungsrechtsprechung, nach der eine Forderung in Geld beim späteren Zufluss im Leistungszeitpunkt als "gewöhnliche" Geldforderung zu Einkommen im Sinne des § 11 Abs. 3 SGB II mutiert, hat das BSG nicht thematisiert. Man kann sich daher nicht auf die Vermögenseigenschaft in diesem Fall gesichert stützen.
Rz. 156
A verfügt nicht über "bereite" bzw. im Bewilligungszeitraum prognostisch verwertbare Mittel. Eine Prognose seiner Chancen, aus seinem Vermögen in den nächsten 12 Monaten "bereite" Mittel zu generieren, ergibt, dass dies unwahrscheinlich ist, weil die Mutter nicht über entsprechende Barmittel verfügt und der einzige Vermögenswert die von ihr bewohnte Immobilie ist. Folglich reicht ein Darlehen nach § 24 Abs. 5 SGB II nicht aus und das Jobcenter hat zunächst zu leisten. Wäre es anders, müssten die "normativen Schutzschirme" des § 12 SGB II geprüft werden:
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Dass der Kläger den Pflichtteilsanspruch wegen familiärer Rücksichtnahme gegenüber der Mutter nicht geltend machen will, führt nicht zu seiner Unverwertbarkeit. Dies kann nach der Rechtsprechung nur im Rahmen der Prüfung der besonderen Härte i.S.d. § 12 Abs. 3 S. 1 Nr. 6 SGB II eine Rolle spielen. |
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Einen Verwertungssausschluss wegen der Enterbung auf den 2. Erbfall aus Gründen der Unwirtschaftlichkeit (§ 12 Abs. 3 S. 1 Nr. 6 SGB II) verneint das BSG. |
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Die Verwertung des Pflichtteilsanspruchs kann aber eine besondere Härte darstellen, wenn dies notwendig zu einer Veräußerung des Hausgrundstücks oder einer unzumutbaren wirtschaftlichen Belastung der Mutter des Klägers führen würde. Eine besondere Härte kann sich nicht nur aus den wirtschaftlichen Auswirkungen auf die Lebenssituation des Hilfebedürftigen, sondern auch aus den besonderen persönlichen Umständen ergeben, die mit der Vermögensverwertung verbunden sind. Dazu gehören auch schwerwiegende familiäre Konfliktsituationen. |
Dazu führt das BSG aus:
Zitat
"Die Besonderheit des vorliegenden Falles besteht darin, dass das Vermögen aus einem Pflichtteilsanspruch besteht, der aus einem Berliner Testament i.S. des § 2269 Abs. 1 BGB folgt. Sinn dieses Testamentes ist es, dem Überlebenden das gemeinsame Vermögen zunächst ungeteilt zu belassen. Die Abkömmlinge werden enterbt und die unerwünschte Pflichtteilsforderung durch eine Verwirkungsklausel sanktioniert. Die gemeinsame Verfügung der Ehepartner wird getragen von der Erwartung, dass die Kinder nicht durch die Einforderung ihres Pflichtteils das Vermögen des überlebenden Partners schmälern. Dass die Rechtsordnung die familiäre Verbundenheit von Erblasser und Pflichtteilsberechtigtem in besonderem Maße berücksichtigt, zeigt § 852 Abs. 1 ZPO. Das Vollstreckungsrecht überlässt dem Pflichtteilsberechtigten die Entscheidung, ob der Anspruch gegen den Erben durchgesetzt werden soll. Das rechtfertigt es aber nicht, stets eine besondere Härte anzunehmen, wenn der Pflichtteilsanspruch aus einem Berliner Testament resultiert. Insbesondere dann, wenn etwa ausreichend Barvermögen zur Auszahlung des Pflichtteilsanspruchs zur Verfügung steht, scheidet die Annahme einer besonderen Härte regelmäßig aus."
Rz. 157
Familiäre Belange können unter Härtegesichtspunkten auch zu einer Vermögensfreistellung führen, wenn
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der Pflichtteilsverpflichtete einen pflegebedürftigen Familienangehörigen vor dem Eintreten der Sozialhilfe weit über das Maß d... |