Rz. 48
BGH, Urt. v. 17.6.2014 – VI ZR 281/13, VersR 2014, 974
Zitat
BGB § 254 Abs. 1; StVG § 9
Der Schadensersatzanspruch eines Radfahrers, der im Straßenverkehr bei einem Verkehrsunfall Kopfverletzungen erlitten hat, die durch das Tragen eines Schutzhelms zwar nicht verhindert, wohl aber hätten gemildert werden können, ist jedenfalls bei Unfallereignissen bis zum Jahr 2011 grundsätzlich nicht wegen Mitverschuldens gemäß § 9 StVG, § 254 Abs. 1 BGB gemindert.
I. Der Fall
Rz. 49
Die Klägerin begehrte Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall, der sich am 7.4.2011 ereignete. Sie befuhr gegen 15.45 Uhr mit ihrem Fahrrad die C.-Straße in G. in Richtung Zentrum auf dem Weg zu ihrer dort gelegen Arbeitsstelle. Am rechten Fahrbahnrand parkte die Beklagte zu 1 mit ihrem bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Pkw. Die Beklagte zu 1 öffnete unmittelbar vor der sich nähernden Klägerin die Fahrertür. Die Klägerin konnte nicht mehr ausweichen, prallte gegen die Tür, stürzte zu Boden und fiel auf den Hinterkopf. Dabei zog sich die Klägerin, die keinen Fahrradhelm trug, schwere Schädel-Hirnverletzungen zu. Es stand außer Streit, dass die Beklagte zu 1 den Unfall allein verursacht hatte. Die Beklagten lasteten der Klägerin jedoch ein Mitverschulden von 50 % an, weil sie keinen Helm getragen hatte. Die Beklagte zu 2 hatte ihre hälftige Eintrittspflicht außergerichtlich anerkannt.
Rz. 50
Das LG hat der Feststellungsklage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das OLG das Urteil des LG teilweise abgeändert und – unter Abweisung der Klage im Übrigen – dem Feststellungsbegehren mit einer Haftungsquote von (nur) 80 % entsprochen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision begehrte die Klägerin die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
II. Die rechtliche Beurteilung
Rz. 51
Die Revision hatte Erfolg. Die Auffassung des Berufungsgerichts, die Ansprüche der Klägerin auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens gemäß §§ 7, 18 StVG bezüglich der Beklagten zu 2 i.V.m. § 115 VVG seien wegen Mitverschuldens gemäß § 9 StVG, § 254 Abs. 1 BGB gemindert, weil die Klägerin keinen Fahrradhelm getragen habe, hielt der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand.
Rz. 52
Die Entscheidung über eine Haftungsverteilung im Rahmen des § 254 BGB ist allerdings grundsätzlich Sache des Tatrichters und im Revisionsverfahren nur darauf zu überprüfen, ob dieser alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt hat. In erster Linie ist hierbei nach der ständigen Rechtsprechung des BGH das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben. Nach den vom Berufungsgericht getroffenen und von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen, war das Nichttragen eines Fahrradhelms ursächlich für das Ausmaß der von der Klägerin erlittenen Kopfverletzungen. Ein Helm hätte das bei dem Sturz erlittene Schädel-Hirn-Trauma zwar nicht verhindern können. Ein Helm habe aber die Funktion einer Knautschzone, welche die stumpf einwirkenden Energien absorbiere. Die Kraft des Aufpralls werde auf eine größere Fläche verteilt und dadurch abgemildert. Im vorliegenden Fall hätte ein Fahrradhelm die Verletzungsfolgen deshalb zumindest in einem gewissen Umfang verringern können.
Rz. 53
Die durch das Nichttragen eines Fahrradhelms begründete objektive Mitverursachung hinsichtlich des Ausmaßes der von der Klägerin erlittenen Verletzungen führte entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts jedoch nicht zu einer Anspruchskürzung gemäß § 254 Abs. 1 BGB.
Rz. 54
Der Vorschrift des § 254 BGB liegt der allgemeine Rechtsgedanke zugrunde, dass der Geschädigte für jeden Schaden mitverantwortlich ist, bei dessen Entstehung er in zurechenbarer Weise mitgewirkt hat. § 254 BGB ist eine Ausprägung des in § 242 BGB festgelegten Grundsatzes von Treu und Glauben. Da die Rechtsordnung eine Selbstgefährdung und Selbstbeschädigung nicht verbietet, geht es im Rahmen von § 254 BGB nicht um eine rechtswidrige Verletzung einer gegenüber einem anderen oder gegenüber der Allgemeinheit bestehenden Rechtspflicht, sondern nur um einen Verstoß gegen Gebote der eigenen Interessenwahrnehmung, also um die Verletzung einer sich selbst gegenüber bestehenden Obliegenheit. Die vom Gesetz vorgesehene Möglichkeit der Anspruchsminderung des Geschädigten beruht auf der Überlegung, dass jemand, der diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die nach Lage der Sache erforderlich erscheint, um sich selbst vor Schaden zu bewahren, auch den Verlust oder die Kürzung seiner Ansprüche hinnehmen muss, weil es im Verhältnis zwischen Schädiger und Geschädigtem unbillig erscheint, dass jemand für den von ihm erlittenen Schaden trotz eigener Mitverantwortung vollen Ersatz fordert. Eine Anspruchskürzung gemäß § 254 Abs. 1 BGB hängt nicht davon ab, dass der Geschädigte eine Rechtspflicht verletzt hat. Insbesondere ist es nicht erforderlich, dass er gegen eine gesetzliche Vorschrift oder eine andere Verhaltensanweisung wie etw...