Rz. 63
BGH, Beschl. v. 19.8.2014 – VI ZR 308/13, VersR 2014, 1480
Zitat
StVG § 9; BGB §§ 249, 253, 254; GG Art. 103
Lässt das Berufungsgericht eine vom Kl. vorgetragene alternative Möglichkeit der Unfallverursachung, die ein schuldhaftes Verhalten des Kl. ausschließen oder jedenfalls in günstigerem Licht erscheinen lassen könnte, unberücksichtigt, verstößt es gegen Art. 103 Abs. 1 GG. (eigener LS)
I. Der Fall
Rz. 64
Der Kläger nahm den Beklagten auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens nach einem Verkehrsunfall in Anspruch. Der Kläger war Zeitsoldat. Seine Dienststelle befand sich in der M-I.-Kaserne in M. Am 20.1.2010 gegen 7.05 Uhr bei 0 Grad Celsius und nassen Straßen überquerte der Kläger – der eine Tarnuniform trug – zu Fuß den vor dem Kaserneneingang gelegenen und als solchen gekennzeichneten Fußgängerüberweg. Als er etwa die Mitte der Straße erreicht hatte, wurde er von dem vom Beklagten zu 1 geführten und bei der Beklagten zu 2 versicherten Kraftfahrzeug erfasst und schwer verletzt. Der Kläger behauptete, der Beklagte zu 1 habe sich der Unfallstelle mit überhöhter Geschwindigkeit genähert. Die Beklagten behaupteten, der Kläger sei plötzlich und unvermittelt im Lichtkegel des Scheinwerfers des Fahrzeuges aufgetaucht. Die sofort eingeleitete Vollbremsung habe die Kollision nicht mehr verhindern können.
Rz. 65
Das LG hat der Klage auf der Grundlage einer Haftungsquote von 50 % entsprochen. Die weiter gehende Klage hat es abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers hat das OLG mit Beschluss einstimmig als unbegründet zurückgewiesen. Es hat dabei zugrunde gelegt, dass die Beklagten lediglich in Höhe von 40 % hafteten. Hiergegen wandte sich der Kläger mit der Nichtzulassungsbeschwerde.
II. Die rechtliche Beurteilung
Rz. 66
Die Nichtzulassungsbeschwerde hatte Erfolg und führte gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Beschlusses und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Das Berufungsgericht hatte den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs in entscheidungserheblicher Weise verletzt.
Rz. 67
Unter entscheidungserheblichem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG ist das Berufungsgericht zu der Beurteilung gelangt, der Kläger habe sich durch ein Beharren auf seinem Vorrecht offensichtlich unvernünftig der Gefahr ausgesetzt, auf dem Fußgängerüberweg angefahren zu werden.
Rz. 68
Das Berufungsgericht hatte ausgeführt, dass sich die offensichtlich unvernünftige Selbstgefährdung des Klägers vorliegend darin gezeigt habe, dass er entweder auf den Verkehr überhaupt nicht geachtet habe, etwa weil er in Eile gewesen sei, oder den Beklagten zu 1 gesehen und gemeint habe, dass dieser noch rechtzeitig werde anhalten können. Im Hinweisbeschluss, auf den das Berufungsgericht in seinem Zurückweisungsbeschluss Bezug genommen hat, hat es weiter ausgeführt, der Kläger habe selbst nicht vorgetragen, dass er vor dem Überqueren des Fußgängerüberwegs angehalten habe, um den fließenden Verkehr zu beobachten. Auch habe er nicht dargelegt, aus welchen Gründen er das herannahende Fahrzeug des Beklagten zu 1 nicht habe erkennen können. Unerheblich sei, dass es möglich sein könne, dass der Beklagte zu 1 schneller als mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h gefahren sei. Seine diesbezügliche Behauptung habe der Kläger nicht bewiesen.
Rz. 69
Gegen diese Beurteilung wandte sich die Nichtzulassungsbeschwerde mit Erfolg. Sie beanstandete zu Recht, dass das Berufungsgericht eine vom Kläger vorgetragene alternative Möglichkeit der Unfallverursachung, die ein schuldhaftes Verhalten des Klägers ausschließen oder jedenfalls in günstigerem Licht erscheinen lassen konnte, unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG nicht berücksichtigt hatte. Der Kläger hatte vorgetragen, der Beklagte zu 1 habe seiner Lebensgefährtin unmittelbar nach dem Unfall erklärt, mit einer Geschwindigkeit von 60 bis 65 km/h gefahren zu sein. Die vom Kläger zum Beweis dieser Behauptung benannte Zeugin S. ist zu dieser Frage nicht vernommen worden. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügte darüber hinaus zu Recht, dass das Berufungsgericht die Angaben des Sachverständigen in seinem Gutachten sowie in der mündlichen Verhandlung nicht berücksichtigt hat, wonach die Geschwindigkeit des Fahrzeugs der Beklagten noch nach der Kollision rund 45 km/h betragen habe bzw. wonach von einer Kollisionsgeschwindigkeit von 45 bis 50 km/h auszugehen sei, obwohl der Beklagte zu 1 vor der Kollision eine Vollbremsung eingeleitet hatte. Diese ihm günstigen Angaben hat sich der Kläger jedenfalls konkludent zu Eigen gemacht (vgl. Senatsurt. v. 8.1.1991 – VI ZR 102/90, VersR 1991, 467, 468; Senatsbeschluss vom 30.11.2010 – VI ZR 25/09, VersR 2011, 1158 Rn 9).
Rz. 70
Das Berufungsgericht hatte darüber hinaus – wie die Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht geltend machte – den Vortrag des Klägers nicht berücksichtigt, wonach der Beklagte die örtlichen Verhältnisse bestens kenne, weil er in der Nähe wohne und deshalb gewusst habe, dass sich dort ein Fußgängerüberweg befinde, der zu der Ka...