a) Wirtschaftlicher Hintergrund
Rz. 225
Der BGH hat einen Abzug fiktiver (von ihm natürlich als latent bezeichneter) Steuerlasten als Nachlassverbindlichkeiten bereits im Jahre 1972 kategorisch ausgeschlossen. Gleichzeitig stellte er aber fest, dass eine Berücksichtigung z.B. im Rahmen der Bewertung (im seinerzeitigen Fall konkret einer Unternehmensbewertung) angebracht sei bzw. wenigstens sein könne. Das gelte insbesondere dann, wenn die Auflösung der stillen Reserven durch Verkauf absehbar oder sogar vom Erblasser angeordnet sei.
Auch in späteren Entscheidungen hat der BGH mehrfach bestätigt, dass fiktive Steuern im Rahmen der Bewertung zu berücksichtigen seien, wenn der Wert der betreffenden Nachlassgegenstände nur durch Verkauf realisiert werden könne bzw. mit einer kurzfristigen Realisierung der stillen Reserven zu rechnen ist. Dies muss umso mehr gelten, wenn die Steuerlast bei einer tatsächlich nach dem Erbfall erfolgenden Veräußerung nicht fiktiv bzw. "latent" bleibt, sondern real wird.
Rz. 226
Dieser Sichtweise kann man weder unter rechtlichen noch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten viel entgegenhalten. Zu Recht hat der BGH dabei in der Vergangenheit auch regelmäßig auf das zugrunde zu legende Verwertungsszenario abgestellt. Denn ohne einen tatsächlichen (oder wenigstens unterstellten) Verkauf des jeweiligen Vermögensgegenstands kommt es zu keiner (zukünftigen) Besteuerung eines etwaigen Veräußerungsgewinns. Die Steuer bleibt dann dauerhaft fiktiv.
Zunehmend zeigt der BGH jedoch die Tendenz, im Rahmen des Pflichtteilsrechts ebenso wie im Recht des Zugewinnausgleichs (wenigstens fiktiv) eine Versilberung des Nachlassvermögens am Bewertungsstichtag (Todestag des Erblassers) zu unterstellen.
Rz. 227
Dessen ungeachtet bleibt festzuhalten, dass immer dann, wenn eine zukünftige Veräußerung das maßgebliche Verwertungsszenario bildet, auch die zukünftige bzw. die fiktive zukünftige Steuerbelastung in die Bewertung einfließen muss. Denn ohne diese Steuerbelastung in Kauf zu nehmen (auszulösen), ist eine Realisierung des Veräußerungspreises nicht möglich. Dies gilt jedenfalls dann, wenn "jedermann", also der Erblasser und der Erbe auf der einen ebenso wie der Pflichtteilsberechtigte (wenn er Erbe geworden wäre) auf der anderen Seite, dem Grunde nach dieser Besteuerung unterläge bzw. unterliegt.
Rz. 228
Konsequenterweise muss in diesem Zusammenhang aber auch gefragt werden, ob bzw. wie sich bei Personenunternehmen (freiberuflichen Praxen, Einzelunternehmen, Mitunternehmerschaften) die Steuersituation auf den erzielbaren Verkaufspreis auswirkt. Denn der Steuerbelastung auf der Verkäuferseite stehen typischerweise neue Abschreibungsmöglichkeiten (für die erworbenen Wirtschaftsgüter) auf der Erwerberseite gegenüber, deren Existenz sich – im Einzelfall – kaufpreiserhöhend auswirken kann (sog. tax amortisation benefit).
b) Dogmatische Einordnung
Rz. 229
Entgegen der Auffassung des BGH, dass die latente (oder fiktive) Steuer im Rahmen der Bewertung der Aktiva erfasst werden müsse, hat das OLG Oldenburg angenommen, die im Falle der Veräußerung von Kapitalanlagen anfallende Abgeltungssteuer (§ 20 Abs. 2 Nr. 6 EStG) sei eine Verbindlichkeit, die dem Grunde nach bereits in der Person des Erblassers entstanden und daher als gesonderter Passivposten im Nachlassverzeichnis zu berücksichtigen sei.
Rz. 230
Diese Sichtweise stellt einen (krassen) Verstoß gegen das Stichtagsprinzip dar. Denn die in Rede stehenden Steuern auf einen etwaigen Veräußerungsgewinn fallen erst und auch nur dann an, wenn es tatsächlich zu einer Veräußerung und damit zu einer Gewinnrealisierung kommt. Im Übrigen entstehen Steuerverbindlichkeiten nach § 38 AO erst (und nur) dann, wenn der jeweilige gesetzliche Steuertatbestand verwirklicht wird, an den das Gesetz die Leis...