§ 5 Nachlass als wertbildender Faktor / a) Wirtschaftlicher Hintergrund

Rz. 225

Der BGH hat einen Abzug fiktiver (von ihm natürlich als latent bezeichneter) Steuerlasten als Nachlassverbindlichkeiten bereits im Jahre 1972 kategorisch ausgeschlossen.^[655] Gleichzeitig stellte er aber fest, dass eine Berücksichtigung z.B. im Rahmen der Bewertung (im seinerzeitigen Fall konkret einer Unternehmensbewertung) angebracht sei bzw. wenigstens sein könne.^[656] Das gelte insbesondere dann, wenn die Auflösung der stillen Reserven durch Verkauf absehbar oder sogar vom Erblasser angeordnet sei.

Auch in späteren Entscheidungen hat der BGH mehrfach bestätigt, dass fiktive Steuern im Rahmen der Bewertung zu berücksichtigen seien, wenn der Wert der betreffenden Nachlassgegenstände nur durch Verkauf realisiert werden könne bzw. mit einer kurzfristigen Realisierung der stillen Reserven zu rechnen ist.^[657] Dies muss umso mehr gelten, wenn die Steuerlast bei einer tatsächlich nach dem Erbfall erfolgenden Veräußerung nicht fiktiv bzw. "latent" bleibt, sondern real wird.^[658]

Rz. 226

Dieser Sichtweise kann man weder unter rechtlichen noch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten viel entgegenhalten. Zu Recht hat der BGH dabei in der Vergangenheit auch regelmäßig auf das zugrunde zu legende Verwertungsszenario abgestellt.^[659] Denn ohne einen tatsächlichen (oder wenigstens unterstellten) Verkauf des jeweiligen Vermögensgegenstands kommt es zu keiner (zukünftigen) Besteuerung eines etwaigen Veräußerungsgewinns. Die Steuer bleibt dann dauerhaft fiktiv.^[660]

Zunehmend zeigt der BGH jedoch die Tendenz, im Rahmen des Pflichtteilsrechts ebenso wie im Recht des Zugewinnausgleichs^[661] (wenigstens fiktiv) eine Versilberung des Nachlassvermögens am Bewertungsstichtag (Todestag des Erblassers) zu unterstellen.^[662]

Rz. 227

Dessen ungeachtet bleibt festzuhalten, dass immer dann, wenn eine zukünftige Veräußerung das maßgebliche Verwertungsszenario bildet, auch die zukünftige bzw. die fiktive zukünftige Steuerbelastung in die Bewertung einfließen muss. Denn ohne diese Steuerbelastung in Kauf zu nehmen (auszulösen), ist eine Realisierung des Veräußerungspreises nicht möglich.^[663] Dies gilt jedenfalls dann, wenn "jedermann", also der Erblasser und der Erbe auf der einen ebenso wie der Pflichtteilsberechtigte (wenn er Erbe geworden wäre) auf der anderen Seite, dem Grunde nach dieser Besteuerung unterläge bzw. unterliegt.^[664]

Rz. 228

Konsequenterweise muss in diesem Zusammenhang aber auch gefragt werden, ob bzw. wie sich bei Personenunternehmen (freiberuflichen Praxen, Einzelunternehmen, Mitunternehmerschaften) die Steuersituation auf den erzielbaren Verkaufspreis auswirkt. Denn der Steuerbelastung auf der Verkäuferseite stehen typischerweise neue Abschreibungsmöglichkeiten (für die erworbenen Wirtschaftsgüter) auf der Erwerberseite gegenüber,^[665] deren Existenz sich – im Einzelfall – kaufpreiserhöhend auswirken kann^[666] (sog. tax amortisation benefit).^[667]

[655] BGH NJW 1972, 1269; MüKo-BGB/Lange, § 2311 Rn 27; Staudinger/Herzog (2021), § 2311 Rn 128 m.w.N.

[656] Der BGH verwies dabei auf Bankmann, Wpg 1959, 148 ff.; Peupelmann, DB 1961, 1397 ff. m.w.N.

[657] BGH DNotZ 1987, 764, 767; BGH FamRZ 1986, 776; BGH NJW 1982, 2497, 2498; BGHZ 98, 382, 389; OLG Hamm BeckRS 2014, 11567; OLG München NJW-RR 2003, 1518, 1519; a.A. aber Daragan, ZErb 2015, 329, 331 f.

[658] Riedel, ErbR 2018, 362, 368; ebenso Schmid, ZErb 2015, 133, 135.

[659] BGH NJW 1972, 1269, 1270; MüKo-BGB/Lange, § 2311 Rn 29.

[660] Vgl. hierzu auch OLG Köln ZEV 2021, 635; Werner, ZEV 2022, 262, 263.

[661] BGH NJW 2011, 2572, 2574; MüKo-BGB/Lange, § 2311 Rn 27; BeckOGK/Blum, § 2311 Rn 211.

[662] BGH NJW-RR 1991, 900, 901; OLG München FamRZ 2013, 329; zustimmend Biermann/Thiele, ErbR 2022, 2; vgl. auch Werner, ZEV 2022, 262 m.w.N.

[663] BGH NJW 2011, 2572.

[664] Für grundsätzliche Berücksichtigung (unabhängig vom Verwertungsszenario) Daragan, RFamU 2022, 412, 415.

[665] Werner, ZEV 2022, 262, 264 m.w.N.

[666] Was aber unsicher und nur schwer prognostizierbar bzw. quantifizierbar ist, vgl. Werner, ZEV 2022, 262, 264.

[667] Vgl. hierzu ausführlich IDW S 13, IDW Life 2016, 574 ff.