Rz. 229
Entgegen der Auffassung des BGH, dass die latente (oder fiktive) Steuer im Rahmen der Bewertung der Aktiva erfasst werden müsse, hat das OLG Oldenburg angenommen, die im Falle der Veräußerung von Kapitalanlagen anfallende Abgeltungssteuer (§ 20 Abs. 2 Nr. 6 EStG) sei eine Verbindlichkeit, die dem Grunde nach bereits in der Person des Erblassers entstanden und daher als gesonderter Passivposten im Nachlassverzeichnis zu berücksichtigen sei.
Rz. 230
Diese Sichtweise stellt einen (krassen) Verstoß gegen das Stichtagsprinzip dar. Denn die in Rede stehenden Steuern auf einen etwaigen Veräußerungsgewinn fallen erst und auch nur dann an, wenn es tatsächlich zu einer Veräußerung und damit zu einer Gewinnrealisierung kommt. Im Übrigen entstehen Steuerverbindlichkeiten nach § 38 AO erst (und nur) dann, wenn der jeweilige gesetzliche Steuertatbestand verwirklicht wird, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft. Das war zu Lebzeiten des Erblassers nicht der Fall. Die Steuerverbindlichkeiten entstanden erst nach dem Tod. Vor diesem Hintergrund könnte man – wenn überhaupt – lediglich von aufschiebend bedingten bzw. zweifelhaften Verbindlichkeiten (§ 2313 BGB) sprechen, die im Rahmen der Pflichtteilsberechnung zu berücksichtigen sind, sobald die Bedingung eingetreten oder die Zweifel weggefallen sind.
Rz. 231
Dogmatisch überzeugender erscheint daher die Herangehensweise des BGH, der die fiktiven bzw. zukünftigen fiktiven (latenten) Steuern im Rahmen der Bewertung des jeweiligen Nachlass-Aktivums berücksichtigt wissen will.
Eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage hierfür sucht man jedoch vergeblich. Denn in § 2311 BGB geht es um den "Wert". Wenn man diesen, wie der BGH das zu Recht tut, (grundsätzlich) mit dem Normalverkaufspreis gleichsetzt, kann bei dessen Bestimmung die (mögliche) Steuerbelastung des Erben keine Rolle spielen.
Rz. 232
Denn der Verkaufspreis ist eine Größe, die der Bestimmung einer etwaigen Steuerbelastung logisch vorgelagert ist. Dies wird deutlich, wenn man sich den Rechenweg zur Bestimmung der fiktiven/latenten Steuer – jedenfalls für Fälle, in denen steuerliches Betriebsvermögen verkauft bzw. ein (ruhender) Betrieb aufgegeben wird – vergegenwärtigt:
Insoweit regelt § 16 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 EStG, dass ein Betriebsaufgabegewinn zu ermitteln ist, indem die Summe aus den erzielten Veräußerungspreisen und Entnahmewerten (in Bezug auf nicht veräußerte Wirtschaftsgüter) den steuerlichen Buchwerten gegenübergestellt wird. Veräußerungs- bzw. Aufgabekosten mindern den Gewinn ebenfalls.
Rz. 233
Das Konzept der Berechnung stellt sich daher wie folgt dar:
|
Veräußerungserlös |
./. |
Veräußerungskosten |
./. |
Buchwert |
|
Gewinn |
Für steuerverstricktes Privatvermögen (z.B. Immobilien bei Verkauf innerhalb der Spekulationsfrist oder Kapitalanlagen) tritt an die Stelle des Buchwerts der Betrag der Anschaffungskosten (bei vermieteten Immobilien vermindert um die AfA).
Rz. 234
Mithin ist die Frage der latenten/fiktiven Steuer eigentlich keine, die dogmatisch auf die Bewertungsebene gehört. Dessen ungeachtet ist aber (wirtschaftlich) eindeutig, dass sie auch pflichtteilsrechtlich relevant sein muss.
Die Begründung hierfür liegt in der (positiv-rechtlich nicht geregelten) Intention des Pflichtteilsrechts, den Berechtigten wirtschaftlich so zu stellen, als sei er mit seiner Pflichtteilsquote Erbe geworden. Würde man die latente/fiktive Steuer außer Betracht lassen, würde der Pflichtteilsberechtigte wirtschaftlich bessergestellt, als der Gesetzgeber dies beabsichtigt hat.
Rz. 235
Rein praktisch erscheint aber der Ansatz des BGH, die mögliche Steuerbelastung in die Bewertung einzubeziehen, sinnvoll, da auf diese Weise eine spätere Korrektur des auf Grundlage der "reinen" Werte rechnerisch ermittelten Pflichtteilsanspruchs vermieden wird. Die dogmatische Rechtfertigung der Berücksichtigung der Steuer ist aber dessen ungeachtet keine Frage rein wissenschaftlichen Interesses, vielmehr wirkt sie sich ganz praktisch auch auf die Bestimmung des zu berücksichtigenden Steuerbetrages aus.