1. Begriffsbestimmung
Rz. 222
Laufende Einkünfte unterliegen im Regelfall der Einkommensteuer. In einer zunehmenden Zahl von Konstellationen sind allerdings auch Gewinne im Rahmen der Veräußerung von Vermögensgegenständen, insbesondere solcher, mit deren Hilfe Einkünfte erzielt wurden, einkommensteuerpflichtig. Das gilt nicht nur bei der Veräußerung von Betriebsvermögen (§ 16 EStG), von sog. wesentlichen Beteiligungen an Kapitalgesellschaften (§ 17 EStG) und Immobilien, für die die Spekulationsfrist noch nicht abgelaufen ist (§ 23 EStG), sondern – seit Einführung der Abgeltungssteuer im Jahr 2009 – auch für Kapitalanlagen, insbesondere (unabhängig von der Haltedauer) Wertpapiere (Aktien, Investmentfonds etc.), § 20 Abs. 2 EStG.
Rz. 223
Eine Einkommensteuer, die bei einer (späteren) Veräußerung einmal anfallen wird, am Bewertungsstichtag aber (mangels Verkaufsfalls) noch nicht angefallen (im steuerlichen Sinne "entstanden") ist, wird gemeinhin als latente Steuer bezeichnet. Der Begriff ist indes nicht glücklich gewählt, denn § 274 Abs. 1 S. 1 HGB definiert (passive) latente Steuern als Differenzen zwischen handelsrechtlichen und steuerlichen Wertansätzen (insbesondere von Vermögensgegenständen), die sich in späteren Geschäftsjahren voraussichtlich abbauen werden.
Rz. 224
Hierum geht es aber bei den im pflichtteilsrechtlichen Kontext interessierenden künftig anfallenden Steuerbelastungen nicht. Denn Differenzen zwischen handels- bzw. zivilrechtlichen und steuerrechtlichen Wertansätzen spielen, pflichtteilsrechtlich betrachtet, keine Rolle. Vor diesem Hintergrund erscheint es sachgerecht, nicht von latenten, sondern vielmehr von zukünftigen oder fiktiven zukünftigen Steuerbelastungen zu sprechen.
Um zukünftige Steuerbelastungen geht es dann, wenn der Bewertung des Nachlassvermögens bzw. einzelner Gegenstände ein tatsächlich zeitnah zum Erbfall eintretendes Veräußerungsszenario zugrunde zu legen ist, um fiktive zukünftige Steuerbelastungen dann, wenn eine tatsächliche Veräußerung nicht absehbar ist.
2. Berücksichtigung fiktiver Steuern dem Grunde nach
a) Wirtschaftlicher Hintergrund
Rz. 225
Der BGH hat einen Abzug fiktiver (von ihm natürlich als latent bezeichneter) Steuerlasten als Nachlassverbindlichkeiten bereits im Jahre 1972 kategorisch ausgeschlossen. Gleichzeitig stellte er aber fest, dass eine Berücksichtigung z.B. im Rahmen der Bewertung (im seinerzeitigen Fall konkret einer Unternehmensbewertung) angebracht sei bzw. wenigstens sein könne. Das gelte insbesondere dann, wenn die Auflösung der stillen Reserven durch Verkauf absehbar oder sogar vom Erblasser angeordnet sei.
Auch in späteren Entscheidungen hat der BGH mehrfach bestätigt, dass fiktive Steuern im Rahmen der Bewertung zu berücksichtigen seien, wenn der Wert der betreffenden Nachlassgegenstände nur durch Verkauf realisiert werden könne bzw. mit einer kurzfristigen Realisierung der stillen Reserven zu rechnen ist. Dies muss umso mehr gelten, wenn die Steuerlast bei einer tatsächlich nach dem Erbfall erfolgenden Veräußerung nicht fiktiv bzw. "latent" bleibt, sondern real wird.
Rz. 226
Dieser Sichtweise kann man weder unter rechtlichen noch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten viel entgegenhalten. Zu Recht hat der BGH dabei in der Vergangenheit auch regelmäßig auf das zugrunde zu legende Verwertungsszenario abgestellt. Denn ohne einen tatsächlichen (oder wenigstens unterstellten) Verkauf des jeweiligen Vermögensgegenstands kommt es zu keiner (zukünftigen) Besteuerung eines etwaigen Veräußerungsgewinns. Die Steuer bleibt dann dauerhaft fiktiv.
Zunehmend zeigt der BGH jedoch die Tendenz, im Rahmen des Pflichtteilsrechts ebenso wie im Recht des Zugewinnausgleichs (wenigstens fiktiv) eine Versilberung des Nachlassvermögens am Bewertungsstichtag (Todestag des Erblassers) zu unterstellen.
Rz. 227
Dessen ungeachtet bleibt festzuhalten, dass immer dann, wenn eine zukünftige Veräußerung das maßgebliche Verwertungsszenario bildet, auch die zukünftige bzw. die fiktive zukünftige Steuerbelastung in die Bewertung einfließen muss. Denn ohne diese Steuerbelastung in Kauf zu nehmen (auszulösen), ist eine Realisierung des Veräußerungspreises nicht möglich. Dies gilt jedenfalls dann, wenn "jedermann", also der Erblasser und der Erbe auf der einen ebenso wie der Pflichtteilsberechtigte (wenn er Erbe geworden wäre) auf der anderen Seite, dem Grunde nach dieser Besteuerung unterläge bzw. unterliegt.
Rz. 228
Konsequenterweise muss in diesem Zusammenhang aber auch gefragt werden, ob bzw. wie sich bei Personenunternehmen (freiberuflichen Praxen, Einzelunternehmen, Mitunternehmerschaften) die Steuersituation auf den erzielbaren Verkaufspreis auswirkt. Denn der Steuerbelastung auf der Verkäuferseite stehen typischerweise neue Abschreibungsmöglichkeiten (für die erworbenen Wirtschaftsgüter) auf der Erwerberseite gegenüber, deren Existenz sich – im Einzelfall – kaufpreiserhöhend auswirken kann (sog. tax amortisation benefit).