1. Allgemeines
Rz. 252
Das Stichtagsprinzip führt vor allem dann zu Schwierigkeiten, wenn die Realisierbarkeit oder auch der rechtliche Bestand bestimmter Vermögensgegenstände zum Stichtag nicht sicher ermittelt werden kann. Eine Schätzung unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls, die einerseits für, andererseits gegen die Realisierbarkeit des Wertes sprechen, würde hier auf jeden Fall zu mehr oder weniger willkürlichen und daher unbefriedigenden Ergebnissen führen. Schließlich müsste stets eine Art Sicherheitsabschlag gemacht werden, der je nach Verlauf der tatsächlichen Entwicklung entweder gar nicht gerechtfertigt ist oder sich als nicht ausreichend erweist.
Vor diesem Hintergrund sieht § 2313 BGB den Ansatz "vorläufiger Werte" vor. Demnach wird der Wert jedes Vermögensgegenstands bzw. Schuldpostens so ermittelt, als ob es keinerlei Unsicherheiten hinsichtlich seines Bestands oder seiner Realisierbarkeit gäbe. Für den Fall, dass sich diese Unterstellung im Nachhinein als unzutreffend erweist, besteht aber die Möglichkeit der Korrektur. Somit stellt § 2313 BGB zwar eine Durchbrechung des Stichtagsprinzips hinsichtlich der Bestimmung des Nachlassbestandes, nicht aber hinsichtlich der Bewertung als solcher dar.
Rz. 253
Anzuwenden ist § 2313 BGB auf Vermögensgegenstände aller Art sowie Verbindlichkeiten und dingliche Belastungen. Besteht lediglich eine Befristung (ohne dass das betroffene Recht/die betroffene Verbindlichkeit unsicher erscheint), ist § 2313 BGB aber nicht anzuwenden; bei ihnen ist der Wert vielmehr nach § 2311 BGB zu ermitteln. Das gilt auch, wenn sich die Unsicherheit lediglich auf die Bewertung als solche, nicht aber auf den tatsächlichen oder rechtlichen Bestand eines Vermögensgegenstands oder einer Verbindlichkeit bezieht.
2. Beurteilungsgrundsätze
Rz. 254
Im Rahmen der Anwendung des § 2313 BGB findet die Beurteilung der Frage, ob ein Vermögensgegenstand oder eine Schuld als unsicher, zweifelhaft, ungewiss oder bedingt anzusehen ist, nicht (ausschließlich) aus der Perspektive des Todestages des Erblassers statt. Im Hinblick auf das Bestreben des Gesetzes, eine möglichst rasche und endgültige Regelung der Pflichtteilsansprüche zu gewährleisten, findet der Rechtsgedanke des § 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB (Wertaufhellung) Anwendung. Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt ist vor diesem Hintergrund (ausnahmsweise) die Geltendmachung des Pflichtteilsanspruchs.
Deshalb kommt es im Rahmen der Anwendung von § 2313 BGB nicht nur darauf an, wie ein Vermögensgegenstand oder Schuldposten zur Zeit des Erbfalls zu beurteilen war; vielmehr sind zwischen Erbfall und Geltendmachung eingetretene Entwicklungen zu berücksichtigen. Daher sind Rechte und Verbindlichkeiten, die zur Zeit des Erbfalls (noch) bedingt, zweifelhaft, ungewiss oder unsicher waren, aber bis zur Geltendmachung unbedingt, zweifelsfrei, gewiss oder sicher geworden sind, voll in Ansatz zu bringen. Soweit Bedingungen oder Zweifel nur noch teilweise bestehen, sind die unbedingten oder nicht mehr zweifelhaften Teile entsprechend in Ansatz zu bringen. Hingegen sind erst nach dem Erbfall aufkommende Zweifel oder Unsicherheiten im Rahmen des § 2313 BGB nicht zu berücksichtigen; der Tatbestand der Vorschrift muss bereits zur Zeit des Erbfalls bestehen. Dem steht aber nicht entgegen, dass wertaufhellende Umstände im Rahmen der Bewertung nach § 2311 BGB berücksichtigt werden. Im Übrigen bleibt es auch im Anwendungsbereich des § 2313 BGB hinsichtlich der eigentlichen Bewertung beim Stichtagsprinzip des § 2311 BGB.
Beispiel
Zum Nachlass gehört eine Forderung über 100.000 EUR. Der Schuldner war im Erbfall, nicht jedoch zum Zeitpunkt der Pflichtteilsgeltendmachung zahlungsfähig. Daher wird sie bei der Berechnung des Pflichtteilsanspruchs nicht im Aktivnachlass angesetzt. Vier Jahre später wird jedoch überraschenderweise die Forderung beglichen, und zwar sogar samt der Verzugszinsen. Dann hat nach § 2313 Abs. 2 S. 1 i.V.m. Abs. 1 S. 3 BGB ein Ausgleich zu erfolgen; der Pflichtteilsberechtigte erhält aus den 100.000 EUR seinen Pflichtteilsanspruch, nicht jedoch aus den Verzugszinsen; auf die Verjährung (§ 2332 BGB) kann sich alle...