a) Voraussetzung

 

Rz. 65

Die Rechtsgrundsätze zum Anscheinsbeweis dürfen nur dann herangezogen werden, wenn sich unter Berücksichtigung aller unstreitigen oder festgestellten Einzelumstände und besonderen Merkmale des Sachverhalts ein für die zu beweisende Tatsache nach der Lebenserfahrung typischer Geschehensablauf ergibt (BGH VersR 1986, 343, 344; zfs 1996, 250).

 

Rz. 66

In dem in zfs 1996, 250 erörterten Fall hat der BGH die Anwendung des Anscheinsbeweises zu Lasten eines Kraftfahrers abgelehnt, der zwar von einer geraden und übersichtlichen Fahrbahn abgekommen war, was aber in unmittelbarem Zusammenhang damit stand, dass er bei Gegenverkehr von einem anderen Fahrzeug überholt wurde, das den Überholvorgang nur knapp zu Ende führen konnte (BGH VersR 1986, 343, 344; zfs 1996, 250).

b) Anscheinsbeweis und Alkohol

 

Rz. 67

Immer wieder fehlerhaft gingen die Instanzgerichte davon aus, dass ein Anscheinsbeweis gegen denjenigen spricht, der bei trunkenheitsbedingter absoluter Fahruntüchtigkeit in einen Verkehrsunfall verwickelt wird (OLG Celle VersR 1988, 608 und OLG Hamm NZV 1990, 393).

 

Rz. 68

Dem hat der BGH einen Riegel vorgeschoben. Er hat ausdrücklich festgestellt, dass auch die alkoholbedingte absolute Fahruntüchtigkeit eines Fahrers bei der Schadensverteilung nach § 17 StVG nur berücksichtigt werden kann, wenn feststeht, dass sie sich in dem Unfall niedergeschlagen hat (BGH zfs 1995, 126).

 

Rz. 69

Das bedeutet, dass eine Mithaftung sowohl nach BGB als auch nach StVG nur dann in Betracht kommt, wenn ein alkoholbedingter Verursachungsbeitrag festgestellt werden kann.

 

Rz. 70

Im oben angesprochenen Fall ging der BGH sogar von 100 %iger Haftung des Unfallgegners aus, da die den Alkoholfahrer grundsätzlich treffende Betriebsgefahr von dem groben Verschulden des Unfallgegners überlagert wurde.

c) Beispiele für den Anscheinsbeweis

 

Rz. 71

Bei Auffahrunfällen – auch auf der Autobahn – spricht der erste Anschein für ein Verschulden des Auffahrenden. Dieser erste Anschein wird nur dadurch erschüttert, dass der Auffahrende die Möglichkeit eines atypischen Verlaufs darlegt und beweist (BGH DAR 1989, 23; VersR 2012, 248; VersR 2017, 374). Gelingt es, den Anscheinsbeweis zu erschüttern, z.B. weil ein Spurwechsel des Vorausfahrenden vorliegt (BGH VersR 2017, 374), obliegt der anderen Partei wieder die volle Beweislast.
Bei einem Wendeunfall spricht der Anscheinsbeweis für eine Unfallverursachung durch den Wendenden. Er kann aber beispielsweise erschüttert werden, wenn der Wendende nachweist, dass der andere Unfallbeteiligte die zulässige Höchstgeschwindigkeit wesentlich überschritten hat (BGH NJW-RR 1986, 384).
Gegen den Fahrer, der ohne ersichtlichen Grund auf die Gegenfahrbahn gerät, spricht der Anscheinsbeweis des Verschuldens (BGH VersR 1986, 343).
Anscheinsbeweis auch gegen einen Fahrer, der bei normaler Verkehrslage von der Fahrbahn abkommt (BGH VersR 1984, 44)
Das Schleudern auf voraussehbar vereister oder wasserglatter Fahrbahn begründet einen Anscheinsbeweis für das Verschulden des Fahrers (BGH VersR 1962, 786; 1971, 439; 1971, 842; OLG Frankfurt zfs 2005, 180). Aber: Unvermutet auftauchendes Blitzeis spricht gegen den Anscheinsbeweis (OLG Düsseldorf v. 18.11.2002 – 1 U 33/01).
Der Beweis des ersten Anscheins spricht für ein Verschulden des Rückwärtsfahrenden (LG Hagen zfs 1992, 44).
Ereignet sich beim Rückwärtsfahren zweier Fahrzeuge aus Parkbuchten eines Parkplatzes eine Kollision, wobei der Rückwärtsfahrende zum Kollisionszeitpunkt noch nicht stand, spricht auch bei Parkplatzunfällen ein allgemeiner Erfahrungssatz dafür, dass der Rückwärtsfahrende seiner Sorgfaltspflicht nicht nachgekommen ist und den Unfall dadurch (mit-)verursacht hat. Dies soll nach der viel beachteten Entscheidung des BGH v. 11.10.2016 (VI ZR 66/16 – VersR 2017, 186 = zfs 2017, 199; vgl. auch BGH v. 15.12.2015 – VI ZR 6/15 – VersR 2016, 410; BGH v. 26.1.2016 – VI ZR 179/15 – VersR 2016, 479) dann allerdings nicht gelten, wenn beim rückwärtigen Ausparken zweier Fahrzeuge aus Parkbuchten eines Parkplatzes bereits ein Fahrzeug vor der Kollision stand.
 

Rz. 72

Gegen den Zweitüberholer spricht bei einem Unfall der Beweis des ersten Anscheins (OLG Nürnberg VersR 1962, 1115).
Bei Kreuzungszusammenstößen spricht zwar der Beweis des ersten Anscheins für eine schuldhafte Vorfahrtsverletzung des Wartepflichtigen, nicht jedoch gleichzeitig für eine Unabwendbarkeit seitens des Vorfahrtsberechtigten.
Fährt ein Kraftfahrer bei Dunkelheit einen Fußgänger am Fahrbahnrand an, spricht der Beweis des ersten Anscheins für sein Verschulden (BGH VersR 1967, 257).
Beim fehlenden Sicherheitsgurt spricht der Anscheinsbeweis für ein Mitverschulden des Geschädigten bei bestimmten Verletzungen und Unfallkonstellationen (hierzu vgl. § 3 Rdn 59 ff.).

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