Prof. Dr. Jutta Müller-Lukoschek
Rz. 7
Im (deutschen) Schrifttum war allerdings umstritten, ob ein Verstoß gegen den (deutschen) ordre public (Art. 6 EGBGB) in Frage kommt, wenn dem Pflichtteilsberechtigten durch die Anwendbarkeit eines fremden Rechts der Pflichtteil entzogen wird. Der BGH (siehe oben Rn 6) hat diese Frage nicht einmal angesprochen. Allerdings ist die Entscheidung ergangen, bevor das BVerfG (für das deutsche Recht) entschieden hat, dass die grundsätzlich unentziehbare und bedarfsunabhängige wirtschaftliche Mindestbeteiligung der Kinder des Erblassers an dessen Nachlass durch die Erbrechtsgarantie gewährleistet ist. Es ist deshalb offen, wie sich der BGH im Lichte der Entscheidung des BVerfG zu dieser Frage positionieren würde.
Rz. 8
In der (deutschen) Literatur wurde – (auch schon vor der Entscheidung des BVerfG) ein Verstoß gegen Art. 6 EGBGB in derartigen Fällen – streitig – diskutiert und zum Teil angenommen, z.B. wenn der Pflichtteilsberechtigte bedürftig oder minderjährig ist und/oder sozialhilfebedürftig wurde. Das kann nicht überzeugen: wenn die Anwendbarkeit einer Norm in Frage steht, kann es nicht auf die persönlichen Verhältnisse des Erben ankommen, sonst wären die Ergebnisse nicht vorhersehbar. Das deutsche Recht unterscheidet konsequentermaßen weder bei der gesetzlichen Erbfolge noch der Pflichtteilsberechtigung danach, ob der gesetzliche Erbe bzw. Pflichtteilsberechtigte auf den Erbteil bzw. den Pflichtteil angewiesen ist, vielmehr besteht entweder das gesetzliche Erbrecht oder der Pflichtteilsanspruch oder eben nicht (auch dem "reichen" Pflichtteilsberechtigten steht der Pflichtteil zu).
Rz. 9
Auch der Aspekt, ob der Betroffene ansonsten der Sozialhilfe zur Last fiele, ist in diesem Zusammenhang irrelevant: Bei der insoweit (Stichwort: Sozialhilfe) ähnlichen Situation zum Behindertentestament kommt es gerade nicht darauf an, dass der Erblasser durch geschickte Testamentsgestaltung dem Sozialhilfeträger faktisch verwehrt, auf den Nachlass zuzugreifen. In diesen Fällen geht es darum, dass ein behindertes (vermögensloses) Kind Sozialhilfe bezieht; typischerweise kommt der Träger der Sozialhilfe für die Unterbringung und Pflege des behinderten Kindes auf. Ziel der Testamentsgestaltung ist es, dem Kind auch beim Erbfall der Eltern die Sozialhilfe ungeschmälert zukommen zu lassen. Es muss deshalb verhindert werden, dass das Kind Vermögen von Todes wegen erwirbt, welches vorrangig einzusetzen wäre. Zum verwertbaren Vermögen im Sinne des § 90 des Sozialgesetzbuches (SGB XII) gehört auch der Erbteil; das durch Erbschaft erworbene Vermögen müsste also eingesetzt werden, bevor die Sozialhilfe greift. Insofern ist sowohl der gesetzliche als auch ein gewillkürter Erbteil schädlich, es muss also (an sich) verhindert werden, dass das Kind beim Erbfall Erbe wird.
Rz. 10
Eine – vollständige – Enterbung nützt aber nichts, weil dadurch der Pflichtteilsanspruch (§ 2303 BGB) entsteht. Selbst wenn das Kind (bzw. ggf. sein Betreuer) darauf verzichtet, den Pflichtteilsanspruch geltend zu machen, hilft dies nicht, weil der Träger der Sozialhilfe den Pflichtteilsanspruch gem. § 93 SGBXII (durch einfache schriftliche Anzeige an den Sozialhilfeberechtigten) auf sich überleiten kann (und das auch tun wird). Der Träger der Sozialhilfe kann damit den Pflichtteilsanspruch stets selbst geltend machen. Es geht also diesen Fällen darum, durch geschickte Testamentsgestaltung eine Lösung zu finden, um die Regelungen des Sozialhilferechts zu "unterlaufen".
Rz. 11
Um dieses Ziel zu erreichen, wird das behinderte Kind zwar als Erbe eingesetzt, aber nur als nicht befreiter Vorerbe. Bezüglich seines Erbteils wird Testamentsvollstreckung angeordnet (§§ 2197 ff. BGB) und zwar als Dauervollstreckung. Damit verliert der Vorerbe vollständig das Verfügungsrecht über den Nachlass (§ 2211 BGB), dies steht allein dem Testamentsvollstrecker zu (§ 2205 BGB). Damit wird erreicht, dass das Vermögen nicht verwertbar ist im Sinne des § 90 SGB XII.
Gem. § 2306 BGB hat der behinderte Erbe (bzw. der Betreuer) die Möglichkeit, den Erbteil auszuschlagen und den Pflichtteil zu verlangen. Diesen Weg wird er aber nicht gehen, weil der Pflichtteil eben nicht dem Behinderten zugutekommt, sondern der Sozialhilfe anheim fällt. Zudem bedarf der Betreuer bei der Ausschlagung der Erbschaft der Genehmigung des Betreuungsgerichts (§ 1908i i.V.m. § 1822 Nr. 2 BGB); das Betreuungsgericht wird die Genehmigung aber verweigern (selbst wenn der Betreuer sie – in Verkennung der Rechtslage – beantragen sollte), eben weil der Pflichtteil nur dem Träger der Sozialhilfe, nicht aber dem Betreuten selbst zugutekommt. Eine Überleitung des Ausschlagungsrechts (im Gegensatz zur Überleitung des Pflichtteilsanspruchs und damit der Möglichkeit des Geltendmachens des Anspruchs) auf den Träger der Sozialhilfe nach § 93 SGB XII kommt nicht in Betracht, weil das Ausschlagungsrecht nur dem Erben zusteht. Derartige Gestaltungen sind nach allgemeiner Ansicht auch unter dem Gesichtspunkt des § 13...