Rz. 615
Durch das 2. KostRMoG wurde in das Vergütungsverzeichnis des RVG eine neue "Zusatzgebühr für besonders umfangreiche Beweisaufnahmen" unter Nr. 1010 VV RVG in Höhe von 0,3 aufgenommen.
Rz. 616
1010 |
Zusatzgebühr für besonders umfangreiche Beweisaufnahmen in Angelegenheiten, in denen sich die Gebühren nach Teil 3 richten und mindestens drei gerichtliche Termine stattfinden, in denen Sachverständige oder Zeugen vernommen werden. Die Gebühr entsteht für den durch besonders umfangreiche Beweisaufnahmen anfallenden Mehraufwand. |
0,3 oder bei Betragsrahmengebühren erhöhen sich der Mindest- und Höchstbetrag der Terminsgebühr um 30 % |
Rz. 617
Durch den Gesetzgeber wurde die Einführung dieser Zusatzgebühr wie folgt begründet:
Zitat
"Die vorgeschlagene Zusatzgebühr soll den besonderen Aufwand bei sehr umfangreichen Beweisaufnahmen ausgleichen. Durch diese Gebühr sollen aber keine Fehlanreize gesetzt werden, die dazu animieren könnten, zusätzliche Beweisaufnahmetermine zu provozieren. Die Hürde bis zu einem dritten Beweistermin erscheint hierfür ausreichend."
Rz. 618
Damit der Rechtsanwalt die Zusatzgebühr der Nr. 1010 VV RVG verdienen kann, müssen zwei Voraussetzungen vorliegen:
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Zum einen muss es sich um "besonders umfangreiche Beweisaufnahmen" handeln und |
▪ |
zum anderen muss der Rechtsanwalt an mindestens drei Terminen teilgenommen haben, in den Sachverständige oder Zeugen vernommen worden sind. |
Erst wenn beide Voraussetzungen erfüllt sind, kann die Zusatzgebühr durch den Rechtsanwalt abgerechnet werden.
Rz. 619
Merkmale der genannten Vernehmungstermine sind:
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Die Vernehmung muss mündlich (vor Ort oder via Videokonferenz) erfolgen; schriftliche Vernehmungen zählen nicht. |
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Es muss ein gerichtlicher Termin sein; ob vor dem erkennenden Gericht oder dem beauftragten oder ersuchten Richter im Wege der Rechtshilfe spielt dabei keine Rolle. |
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Erfolgt die Vernehmung desselben Zeugen oder Sachverständigen in mehreren Terminen, so zählen diese jeweils gesondert. |
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Abzustellen ist auf die Anzahl der Termine, nicht auf die Anzahl der Zeugen oder Sachverständigen, die in einem (1) Termin vernommen werden. |
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Die Dauer des Termins ist unerheblich, solange es in der Gesamtschau zu einer besonders umfangreichen Beweisaufnahme gekommen ist, d.h. es zählt auch zahlenmäßig ein Termin, der z.B. nur 10 Min. gedauert hat. |
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Werden Zeugen und Sachverständigen in einem (1) Termin vernommen, zählt dies nur als ein (1) Termin. |
Rz. 620
Ferner ist darauf zu achten, dass diese drei Termine in derselben gebührenrechtlichen Angelegenheit (vgl. § 17 Nr. 1 RVG) stattgefunden haben. Es ist daher nicht ausreichend, wenn z.B. zwei Termine in erster Instanz und ein weiterer Termin beispielsweise nach Zurückverweisung oder in zweiter Instanz stattfinden, da dann nicht dieselbe Angelegenheit vorliegt.
Rz. 621
Problematisch ist auch die Formulierung "besonders umfangreiche Beweisaufnahmen" im Rahmen der Kostenfestsetzung werden, denn eine konkrete Definition, was denn genau darunter zu verstehen ist, ist durch den Gesetzgeber nicht erfolgt. Eine lediglich "umfangreiche Beweisaufnahme" ist nicht ausreichend.
Rz. 622
Darüber hinaus tauchen weitere Fragen im Zusammenhang mit dieser Gebühr auf. Muss der Anwalt die Termine auch wahrnehmen (die Gebühr soll ja den zusätzlichen Aufwand belohnen) oder reicht es aus, wenn die Termine stattfinden und sich die Tätigkeit des Anwalts in Bezug auf diese Termine darauf beschränkt, dass er am Ende das Sitzungsprotokoll liest? Auch zu dieser Frage ist mit Rechtsprechung zu rechnen, auch wenn der Gesetzeswortlaut tatsächlich nur von einem "Stattfinden" und nicht von einer "Wahrnehmung" von Terminen spricht. Auch die Beweisgebühr nach BRAGO wurde durch die Prüfung und Weiterleitung des Beweisbeschlusses schon ausgelöst, ohne dass der Anwalt am Beweisaufnahmetermin selbst teilnehmen musste.
Rz. 623
Nach Auffassung des OLG München lassen sowohl Wortlaut als auch Gesetzesbegründung an Deutlichkeit zu wünschen übrig, weshalb die Rechtsprechung der Gebühr teilweise einen relevanten Anwendungsbereich abspricht und zu beklagen ist, dass Rechtsprechung kaum existiert als auch die Behandlung in der Kommentarliteratur eher dürftig ist. So sei nicht klar, ob neben den drei geforderten Terminen, in denen Sachverständige oder Zeugen vernommen werden, zusätzlich auch eine besonders umfangreiche Beweisaufnahme gefordert ist. Im vorliegenden Fall sprach das OLG München die Gebühr jedoch schon deswegen nicht zu, weil eben nicht in drei unterschiedlichen Terminen eine Vernehmung/Anhörung des Sachverständigen/von Zeugen erfolgt war. Die bloße Teilnahme an einem Termin durch den gerichtlich bestellten Sachverständigen reicht jedenfalls nicht aus. Die anders lautende Entscheidung des LG Ravensburg ist abzulehnen, weshalb auch das OLG München diese Annahme zu Recht ablehnt.