I. Amtsprüfung

 

Rz. 810

Verwirkung und Verjährung sind verschiedene Möglichkeiten der Rechtsentgegnung aufgrund Zeitenlaufes. Von der Verjährung unterscheidet sich die Verwirkung zunächst dadurch, dass sie von Amts wegen, die Verjährung aber nur auf die ausdrücklich erhobene (Partei)Einrede zu berücksichtigen ist.[775]

 

Rz. 811

Zur Beurteilung, ob Verwirkung eingetreten ist, sind die besonderen Umstände des Falles tatrichterlich zu würdigen.[776]

[775] BGH v. 10.11.1965 – Ib ZR 101/63 – BB 1966, 7 = DB 1965, 1904 = MDR 1966, 118 = NJW 1966, 345; Palandt-Grüneberg, 76. Aufl. 2017, § 242 BGB Rn 96.
[776] BGH v. 20.7.2017 – III ZR 545/16 – BeckRS 2017, 120638 = DB 2017, 2154 = MDR 2017, 1233 = NJW-RR 2017, 1527 = ZIP 2017, 1957; BGH v. 16.5.2017 – XI ZR 586/15 – MDR 2017, 887 = NJW 2017, 2340 = WM 2017, 1258 (1261) = ZIP 2017, 1264 (Rn 27) m.w.N.

II. Inhalt

 

Rz. 812

Die Verwirkung schließt – als ein Sonderfall der unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB) – die illoyal verspätete Geltendmachung von Rechten aus.[777] Sie beruht auf dem Gedanken des Vertrauensschutzes und dient – wie die Verjährung – dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit und Rechtsklarheit.

 

Rz. 813

Mit der Verwirkung soll das Auseinanderfallen zwischen rechtlicher und sozialer Wirklichkeit beseitigt werden; die Rechtslage wird der sozialen Wirklichkeit angeglichen.[778]

 

Rz. 814

Auf konkrete Vertrauensinvestitionen des Schuldners bzw. auf das Entstehen besonderer Nachteile durch die späte Inanspruchnahme kommt es nicht an.[779] Entscheidend für den eintretenden Rechtsverlust ist, dass die verspätete Geltendmachung des Rechtes wegen des geschaffenen Vertrauenstatbestandes als eine mit Treu und Glauben unvereinbare Härte erscheint.[780]

[777] BAG v. 11.12.2014 – 8 AZR 838/13 – NJW 2015, 2061 = NZA 2015, 808 = openJur 2015, 11403 (Anspruch auf Schmerzensgeld verwirkt nicht durch Abwarten); BGH v. 11.2.1992 – VI ZR 133/91 – DAR 1992, 173 = NJW 1992, 1755 = NZV 1992, 274 = VersR 1992, 627 = VRS 83, 118 = zfs 1992, 152; BSG v. 20.5.1958 – 2 RU 285/56 – JR 1959, 356 (Keine Verwirkung, wenn der Berechtigte sich zunächst bemüht, von einem anderen außerhalb der Sozialversicherung Stehenden Leistungen zu erhalten); OLG Hamm v. 10.9.2001 – 13 U 30/00 – r+s 2002, 227 = VersR 2002, 565 (Fehlende Bildung von Rückstellung durch den Versicherer stellt für sich noch keine Härte dar); OLG Köln v. 15.9.1995 – 20 U 206/94 – VersR 1996, 240.
[778] BAG v. 12.12.2006 – 9 AZR 747/06 – NZA 2007, 396 (Rn 17 m.w.N.).
[779] BGH v. 15.9.2010 – XII ZR 148/09 – FamRZ 2010, 1888 = MDR 2010, 1393 = NJW 2010, 3714, BGH v. 23.10.2002 – XII ZR 266/99 – BGHZ 152, 217 = FamRZ 2002, 1698 = JR 2003, 283 = MDR 2003, 86 = NJW 2003, 128.
[780] BGH v. 11.2.1992 – VI ZR 133/91 – DAR 1992, 173 = NJW 1992, 1755 = NZV 1992, 274 = VersR 1992, 627 = VRS 83, 118 = zfs 1992, 152; BSG v. 20.5.1958 – 2 RU 285/56 – JR 1959, 356 (Keine Verwirkung, wenn der Berechtigte sich zunächst bemüht, von einem anderen außerhalb der Sozialversicherung Stehenden Leistungen zu erhalten); OLG Hamm v. 10.9.2001 – 13 U 30/00 – r+s 2002, 227 = VersR 2002, 565 (Fehlende Bildung von Rückstellung durch den Versicherer stellt für sich noch keine Härte dar), OLG Köln v. 15.9.1995 – 20 U 206/94 – VersR 1996, 240.

III. Voraussetzungen

 

Rz. 815

Hinzuweisen ist auf den Umstand, dass wiederkehrende Leistungen einer verkürzten Verjährung trotz unverjährtem Stammrecht unterliegen (Rdn 644 ff.).

1. Allgemeines

 

Rz. 816

Die Verwirkung eines Anspruches kann vor der Verjährung des Anspruches eintreten.[781] Es gilt die allgemeine Regel, dass umso seltener Raum für eine Verwirkung ist, je kürzer die Verjährungsfrist ist.[782] Vor Ablauf der 3-jährigen Verjährungsfrist tritt Verwirkung deliktischer Ansprüche i.d.R. nicht ein.[783]

 

Rz. 817

Vor Fälligkeit kann ein Anspruch nicht verwirkt sein.[784]

[781] BGH v. 11.2.1992 – VI ZR 133/91 – DAR 1992, 173 = NJW 1992, 1755 = NZV 1992, 274 = VersR 1992, 627 = VRS 83, 118 = zfs 1992, 152; BGH v. 29.2.1984 – VIII ZR 310/82 – NJW 1984, 1684.
[782] BGH v. 11.2.1992 – VI ZR 133/91 – DAR 1992, 173 = NJW 1992, 1755 = NZV 1992, 274 = VersR 1992, 627 = VRS 83, 118 = zfs 1992, 152; BSG v. 1.7.2010 – B 13 R 67/09 R – Breith 2011, 130 = SozR 4–2400 § 24 Nr. 5.
[783] BAG v. 11.12.2014 – 8 AZR 838/13 – NJW 2015, 2061 = NZA 2015, 808 = openJur 2015, 11403; BGH v. 11.2.1992 – VI ZR 133/91 – DAR 1992, 173 = NJW 1992, 1755 = NZV 1992, 274 = VersR 1992, 627 = VRS 83, 118 = zfs 1992, 152; BGH v. 20.7.2010 – EnZR 23/09 – NJW 2011, 212 (Anm. Linsmeier) (Rn 22); BGH v. 6.12.1988 – XI ZR 19/88 – JR 1989, 280 = JZ 1989, 255 = LM BGB § 242 [Cc] Nr. 46 = MDR 1989, 448 = NJW-RR 1989, 818 = WM 1989, 354; BGH v. 13.1.1988 – IVb ZR 7/87 – BGHZ 103, 62 = FamRZ 1988, 370 = MDR 1988, 481; BGH v. 17.2.1969 – II ZR 30/65 – BB 1969, 331 = BGHZ 51, 346 = DB 1969, 569 = MDR 1969, 372 = NJW 1969, 879; OLG Düsseldorf v. 12.6.2015 – 22 U 32/15 – IBR 2015, 653 = NJW-RR 2016, 85 (Unterliegt ein Anspruch der [kurzen] regelmäßigen Verjährung von drei Jahren [§§ 195, 199 BGB]), kann eine weitere Abkürzung dieser Verjährungsfris...

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