I. Typischer Sachverhalt
Rz. 109
Die Eheleute M und F haben sich durch ein gemeinschaftliches Testament ohne Abänderungsklausel gegenseitig zu Alleinerben eingesetzt. Schlusserben sind ihre beiden Söhne S1 und S2 zu gleichen Teilen. Ersatzschlusserben sind für S1 seine Tochter T und für S2 sein Sohn E. Nach dem Tod der Ehefrau F ist sich die Familie einig, dass Sohn S2 einmal alles erben soll, da S1 bereits zu Lebzeiten ohne Anrechnungsbestimmung eine dem Wert des Schlusserbes fast gleichwertige Schenkung der Eltern erhalten hat. Gleichzeitig soll der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger e.V. ermöglicht werden, ein Vermächtnis in Höhe von 10.000 EUR zu erhalten.
II. Rechtliche Grundlagen
1. Grundsätzliches
a) Bedeutung in der Kautelarpraxis
Rz. 110
Die Bedeutung des Zuwendungsverzichts ist in der Kautelarpraxis relativ gering, zumal letztwillige Verfügungen nach §§ 2253 ff. BGB oder Erbverträge nach § 2290 BGB zu Lebzeiten abgeändert werden können. Der Zuwendungsverzicht ist ebenfalls ein abstraktes Rechtsgeschäft mit zugrunde liegendem Kausalgeschäft zwischen Erblasser und Dritten.
Das Hauptmotiv des Zuwendungsverzichts ist die Beseitigung bindender Verfügungen bei Fehlen des Bindungspartners. Praxisrelevanz entfaltet der Zuwendungsverzicht folglich nur in wenigen Bereichen, in denen keine Abänderung mehr durch den Erblasser erfolgen kann, z.B.:
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Geschäftsunfähigkeit des Erblassers |
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Bindungswirkung wegen gemeinschaftlichen Testaments |
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Bindungswirkung wegen Erbvertrages wegen fehlender Mitwirkung des Vertragspartners |
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Umgehung der Rechtsfolgen des § 2287 BGB. |
Rz. 111
In diesem Zusammenhang ist allerdings darauf hinzuweisen, dass die Verfügungsfreiheit des erbrechtlich gebundenen Erblassers trotz des Zuwendungsverzichts des zunächst Bedachten nicht eintritt, wenn eine Ersatzberufung oder eine Anwachsung nach § 2094 BGB an andere eintritt. Um diese Konsequenz zu vermeiden, müssten auch diese Personen, also z.B. Ersatzerben oder Ersatzvermächtnisnehmer, einen Zuwendungsverzicht erklären. Ferner ist § 2069 BGB zu beachten. Das Verbot einer Kumulation der Auslegungsregel des § 2270 Abs. 2 BGB mit der des § 2069 BGB ist aber auch im Anwendungsbereich des § 2352 BGB zu berücksichtigen.
Rz. 112
Für die Testamentspraxis empfiehlt sich zudem die weitere Alternative, Ersatzberufungen unter die auflösende Bedingung zu stellen, dass sie ersatzlos wegfallen, wenn der Erstberufene einen Zuwendungsverzicht erklärt.
Rz. 113
Durch die Erbrechtsreform wurde die Bedeutung des Zuwendungsverzichts durch Einfügung des § 2352 S. 3 BGB – "Die Vorschriften der §§ 2347 bis 2349 finden Anwendung" – erhöht. Danach soll also der Zuwendungsverzicht, soweit nichts anderes angeordnet wurde, auch für die Abkömmlinge gelten. Der vorliegende Verweis auf § 2349 BGB hilft häufig in der Praxis nicht weiter, weil nicht nur Abkömmlinge als Ersatzberufene denkbar sind. Insofern greift die Neuregelung nicht bei ersatzweise berufenen Erben und Vermächtnisnehmern, die nicht Abkömmlinge sind (siehe Rdn 127).
Rz. 114
Erhebliche praktische Probleme bestehen in den Fällen, bei denen ein Zuwendungsverzicht durch einen minderjährigen Ersatzberufenen erfolgen soll. Soll der Verzicht gegenüber einem Elternteil erfolgen, ist die Bestellung eines Ergänzungspflegers nach Maßgabe der §§ 2347, 1629 Abs. 2, 1824 Abs. 1 Nr. 1 sowie die familiengerichtliche Genehmigung nach §§ 2347 Abs. 1, 2352 S. 3 BGB erforderlich. Für den Verzicht durch den Betreuer ist die Genehmigung des Betreuungsgerichts erforderlich.
Rz. 115
Der Zuwendungsverzicht wird in § 2352 BGB geregelt, wobei zwischen einem Verzicht auf testamentarische Zuwendungen und Zuwendungen aufgrund eines Erbvertrages differenziert wird.
b) Testamentarische Zuwendungen
Rz. 116
Auf testamentarische Zuwendungen kann uneingeschränkt verzichtet werden.
c) Erbvertragliche Zuwendungen
Rz. 117
Bei erbvertraglichen Zuwendungen ist Voraussetzung für den Verzicht, dass der Bedachte "Dritter", also nicht Vertragspartner des Erbvertrages ist. Der Begriff des Dritten ist entsprechend dem Änderungsbedürfnis einschränkend aufgrund einer teleologischen Reduktion auszulegen.
Vertragsparteien sind also entweder die im Testament Bedachten und der Erblasser oder der im Erbvertrag des Erblassers eingesetzte Dritte. Dritter ist
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jeder, der am Abschluss dieses Erbvertrages nicht formell beteiligt gewesen ist; |
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beim mehrseitigen Erbvertrag jeder, zu dessen Gunsten eine vertragsmäßige Verfügung enthalten ist; |
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der Erbvertragspartner selbst, wenn eine Aufhebung wegen zwischenzeitlich eingetretener Geschäftsunfähigkeit des Erbl... |