André Schah-Sedi, Dr. Michael Nugel
I. Typischer Sachverhalt
Rz. 392
Ehemann (M) ist mit seinem Pkw unterwegs, begleitet von seiner auf dem Beifahrersitz sitzenden Ehefrau (E) sowie der zehnjährigen Tochter (T) und deren Freundin (F), die auf dem Rücksitz sitzen. M ist unterwegs von einer Familienfeier, bei der auch Alkohol getrunken wurde. M will für die Kinder die Kassette "Heidi" einlegen. Hierbei übersieht er eine Kurve und gerät mit dem Fahrzeug in den Graben. Alle vier Insassen werden verletzt, wobei die Ehefrau Knieverletzungen mit bleibenden Schäden davonträgt. Am Fahrzeug entsteht Totalschaden. Im Übrigen wird eine mitgeführte Musikanlage total beschädigt. Das Fahrzeug muss durch ein Bergungsfahrzeug abtransportiert werden.
Es besteht eine Kraftfahrtinsassenunfallversicherung, eine Vollkaskoversicherung sowie eine Verkehrs-Service-Versicherung und im Übrigen eine Hausratversicherung. Die Polizei wird zur Unfallstelle gerufen und nimmt das Unfallgeschehen auf.
Für den beratenden Anwalt (A) ergibt sich die Frage, wem welche Ansprüche zustehen, bzw. welche Regressansprüche gegen den Mandanten M in Betracht kommen.
Der Mann M möchte dem Anwalt A das Mandat zur Verteidigung im Strafrechts- und OWi-Verfahren antragen. Für den Anwalt stellt sich die Frage der Interessenkollision.
II. Rechtliche Grundlagen
1. Überblick
Rz. 393
Von besonderer Bedeutung ist die Neufassung des VVG, die ab dem 1.1.2008 in Kraft getreten ist und für den VN viele Verbesserungen brachte und für alle ab diesem Zeitpunkt abgeschlossenen Verträge gilt. Dem VR wurde gem. Art. 1 Abs. 3 EGGVG ein Zeitraum bis zum 1.10.2009 eingeräumt, innerhalb dessen er seine AGB dem neuen VVG anpassen konnte. Dabei musste er dem VN die Neufassung der AGB in Textform einen Monat vor dem Zeitpunkt zur Verfügung stellen, zu dem diese wirksam werden sollten.
So ist die Sanktionsregelung bei Verletzung vertraglich vereinbarter Obliegenheiten unwirksam, wenn der VR von der Möglichkeit der Vertragsanpassung gem. Art. 1 Abs. 3 EGVVG keinen Gebrauch gemacht hat. Der VR kann deshalb bei grob fahrlässiger Verletzung vertraglicher Obliegenheiten kein Leistungskürzungsrecht gem. § 28 Abs. 2 S. 2 VVG geltend machen. Auf die Verletzung gesetzlicher Obliegenheiten wie den Einwand der grob fahrlässigen Herbeiführung des Versicherungsfalles gem. § 81 Abs. 2 VVG kann sich der VR weiterhin berufen.
Rz. 394
Eine der zentralen Reformen des neuen VVG liegt in der Aufgabe des sog. "Alles-oder-Nichts-Prinzips". Nach neuem Recht wird bei einer Obliegenheitsverletzung ein vorsätzliches Handeln des VN nicht mehr vermutet. Vielmehr muss der VR gem. § 28 Abs. 2 S. 1 VVG einen Vorsatz des VN beweisen. Vermutet wird allerdings gem. § 28 Abs. 2 S. 2 VVG eine grobe Fahrlässigkeit des VN, sofern eine Obliegenheitsverletzung feststeht. Zugunsten des VN wird im neuen VVG auch die Möglichkeit geändert, den sog. Kausalitätsgegenbeweis zu führen. Dieser Kausalitätsgegenbeweis ist allerdings dann gem. § 28 Abs. 3 S. 2 VVG ausgeschlossen, wenn der VN die Obliegenheit arglistig verletzt hat.
Rz. 395
Für alle Versicherungszweige wurden im allgemeinen Teil die Voraussetzungen für einen Vertragsabschluss neu gefasst: Das sog. "Policenmodell", wonach es genügte, wenn dem VN erst mit dem Versicherungsschein die AVB und notwendige Verbraucherinformationen mit einem 14-tägigen Widerrufsrecht zugestellt werden, wurde aufgehoben. Nunmehr ist der VR nach den §§ 6, 7 VVG verpflichtet, dem VN vor Vertragsabschluss eine Vielzahl an Verbraucherinformationen und die Versicherungsbedingungen zur Verfügung zu stellen. Ausnahmen können zwischen dem VR und dem VN individuell vereinbart werden.
Rz. 396
Von besonderer Bedeutung ist auch, dass § 215 VVG die gerichtliche Zuständigkeit neu geregelt hat. Nach § 215 Abs. 1 VVG ist für Klagen aus dem Versicherungsvertrag zusätzlich das Gericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk der VN zur Zeit der Klagerhebung seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat. Für Klagen gegen den VN ist dieses Gericht sogar ausschließlich zuständig.
2. Quotale Leistungskürzung
Rz. 397
Die Neufassung des VVG sieht vor, dass der VR im Fall der grob fahrlässigen Obliegenheitsverletzung oder Gefahrerhöhung lediglich zu einer Leistungskürzung berechtigt ist, die der Schwere des Verschuldens entspricht. Die näheren Kriterien für eine derartige Kürzung hat der Gesetzgeber bewusst der Rechtsprechung und Literatur überlassen.
a) Kürzung auf Null
Rz. 398
Der VR kann bei grob fahrlässiger Herbeiführung des Versicherungsfalles durch den VN in Ausnahmefällen die Leistung vollständig versagen – so insbesondere bei absoluter Fahruntüchtigkeit im Bereich der Kraftfahrtversicherung. Dazu bedarf es jedoch immer der Abwägung der Umstände des Einzelfalles.
Wer dem VR aber das Recht zusprechen möchte, bei einer grob fahrlässigen Obliegenheitsverletzung die Leistung um bis zu 100 % zu kürzen, muss es im Gegenzug auch zulassen, dass es Fälle geben kann, bei denen theoretisch das festgestellte grobe Verschulden so gering ist, dass keine Leistungskürzung angemessen wäre.