Rz. 45
Jedem Bürger steht das Recht auf Gemeingebrauch öffentlicher Verkehrsflächen zu. Deshalb ist neben den Rechtsgütern wie Leben, körperliche Unversehrtheit, Eigentum oder Besitz auch die Freiheit des einzelnen Verkehrsteilnehmers, sich ohne verkehrsfremde Beeinträchtigungen im Straßenverkehr zu bewegen, ein notwehrfähiges Rechtsgut (OLG Schleswig NJW 1984, 1470). Gegen einen verkehrsfremden Angriff kann u.U. sogar ein gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr gerechtfertigt sein (BGH NJW 2013, 2133).
Rz. 46
Ein Notwehrrecht kann allerdings allenfalls gegen verkehrsfremde Eingriffe ausgeübt werden. Innerhalb des Verkehrsgeschehens haben dagegen Verkehrsteilnehmer untereinander kein Notwehrrecht, auch nicht, wenn sie in diesem Rahmen unter vorsätzlichem Verstoß gegen die Normen der Straßenverkehrsordnung in ihrer Bewegungsfreiheit beeinträchtigt werden (BayObLG St 1992, 86).
Rz. 47
Die Frage, wann eine im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit einem Verkehrsgeschehen vorgenommene Handlung verkehrsfremd und damit notwehrfähig ist, wird von der Rechtsprechung indessen nicht einheitlich entschieden. So hält z.B. das BayObLG (NJW 1993, 211) eine Notwehrlage schon dann für gegeben, wenn ein hinter einer Kolonne zum Anhalten gekommener Kraftfahrer aussteigt und auf seinen Hintermann zugeht, um diesen auf sein vorausgegangenes, fehlerhaftes Verkehrsverhalten anzusprechen.
Rz. 48
Dagegen vertritt das OLG Düsseldorf (NJW 1994, 1232) in dem Fall, in dem der "Täter" die Tür eines verkehrsbedingt stehenden Pkws öffnet, um dessen Fahrer zur Rede zu stellen, die Auffassung, dass dieser alleine dadurch noch keinen zu Notwehr berechtigenden Angriff auf den Fahrer begangen habe. Allerdings weist es darauf hin, dass dann, wenn der Fahrer in einer solchen Situation dennoch mit einem Faustschlag reagiert, es einer eingehenden Auseinandersetzung mit der Frage bedarf, ob dieser einen Angriff tatsächlich annahm und ob ihm dies vorzuwerfen ist ("Putativnotwehr").
Rz. 49
Selbstverständlich besteht in den Fällen der heute fast schon üblichen Beleidigungen im Straßenverkehr (wie z.B. "Stinkefinger") kein Notwehrrecht. Von einem durchschnittlichen Kraftfahrer muss vielmehr erwartet werden, dass er die wegen einer solchen Beleidigung verständlicherweise aufsteigende Wut so weit beherrscht, dass er sich nicht zu Tätlichkeiten – schon gar nicht zu lebensbedrohenden – hinreißen lässt. Tut er dies dennoch, ist er zum Führen von Kraftfahrzeugen charakterlich ungeeignet (KG NZV 1997, 126).