Rz. 37
Obliegenheiten sind keine "echten Verbindlichkeiten", sondern Verhaltensnormen, die der Versicherungsnehmer beachten muss, um den Versicherungsschutz zu erhalten. Der Versicherer kann nicht auf Erfüllung von Obliegenheiten klagen, es besteht nur in den Grenzen von § 28 VVG vollständige oder teilweise Leistungsfreiheit für den jeweiligen Versicherungsfall.
Rz. 38
Die Rechtsfolgen der Verletzung von vertraglichen Obliegenheiten treten nur ein, wenn der Versicherungsnehmer grob fahrlässig oder vorsätzlich gehandelt hat. Schuldlos oder leicht fahrlässig begangene Obliegenheitsverletzungen sind folgenlos. Die Leistungsfreiheit des Versicherers hängt nicht (mehr) davon ab, ob der Vertrag gekündigt worden ist oder ob die Obliegenheitsverletzung vor oder nach Eintritt des Versicherungsfalles begangen worden ist.
a) Kündigung (§ 28 Abs. 1 VVG)
Rz. 39
Die grob fahrlässige oder vorsätzliche Obliegenheitsverletzung des Versicherungsnehmers berechtigt den Versicherer, den Vertrag innerhalb eines Monats zu kündigen. Im Regelfall wird eine derartige Obliegenheitsverletzung dem Versicherer erst bekannt, wenn der Versicherungsfall eingetreten ist. Hier räumt § 92 VVG dem Versicherer (auch dem Versicherungsnehmer) ein generelles Kündigungsrecht innerhalb einer Frist von einem Monat ein.
§ 28 Abs. 1 VVG gibt dem Versicherer auch die Möglichkeit, den Versicherungsvertrag ohne Schadenfall zu kündigen, wenn er von einer grob fährlässigen oder vorsätzlichen Obliegenheitsverletzung des Versicherungsnehmers Kenntnis erlangt.
b) Vorsatz
Rz. 40
Eine vorsätzliche Obliegenheitsverletzung des Versicherungsnehmers führt zur vollständigen Leistungsfreiheit des Versicherers, wenn diese Obliegenheitsverletzung ursächlich für den Eintritt oder den Umfang des Schadens war.
c) Grobe Fahrlässigkeit
Rz. 41
Eine grob fahrlässige Obliegenheitsverletzung, die ursächlich für den Eintritt des Schadens oder dessen Umfang war, führt zur partiellen Leistungsfreiheit des Versicherers: Dieser kann seine Leistung "in einem der Schwere des Verschuldens des Versicherungsnehmers entsprechenden Verhältnis" kürzen (§ 28 Abs. 2 S. 2 VVG).
d) Auskunfts- und Aufklärungsobliegenheit (§ 28 Abs. 4 VVG)
Rz. 42
Der Versicherungsnehmer hat nach Eintritt des Versicherungsfalles umfassende Auskunfts- und Aufklärungspflichten, die es dem Versicherer ermöglichen sollen, seine Eintrittspflicht dem Grund und der Höhe nach festzustellen. Auch hier führen Vorsatz zur völligen und grobe Fahrlässigkeit zur partiellen Leistungsfreiheit des Versicherers, wenn sich die Obliegenheitsverletzung kausal auf die Schadenfeststellung auswirkt.
Rz. 43
Das Gesetz sieht hier jedoch noch eine weitere Schutzvorschrift für den Versicherungsnehmer vor, die nach altem Recht von der Rechtsprechung entwickelt worden war: Der Versicherer wird nur dann leistungsfrei, wenn er den Versicherungsnehmer "durch gesonderte Mitteilung in Textform" auf die Leistungsfreiheit bei Verletzung dieser Obliegenheit hingewiesen hat.
e) Nachfrageobliegenheit
Rz. 44
Wenn ein Versicherungsnehmer die Antragsfragen des Versicherers unklar beantwortet, besteht eine Nachfrageobliegenheit, insbesondere dann, wenn diese Angaben entsprechende Erkundigungen des Versicherers nahe legen.
Wenn der Versicherer bei ersichtlich unvollständigen oder unklaren Angaben keine Rückfrage hält, liegt keine ordnungsgemäße Risikoprüfung vor, so dass der Versicherer nicht wirksam vom Versicherungsvertrag zurücktreten kann.
Demgegenüber ist es einem Versicherungsnehmer nicht möglich, bei arglistiger Falschbeantwortung von Antragsfragen sich auf eine Verletzung der Nachfrageobliegenheit des Versicherers zu berufen.
Diese Nachfrageobliegenheit besteht auch bei Widersprüchen oder offenkundigen Unrichtigkeiten in der Schadenanzeige.
f) Arglist
Rz. 45
Das Kausalitätserfordernis entfällt, wenn der Versicherungsnehmer "die Obliegenheit arglistig verletzt hat" (§ 28 Abs. 3 S. 2 VVG). Vorsatz bedeutet im Versicherungsrecht dolus directus und dolus eventualis. Arglist liegt nur dann vor, wenn der Versicherungsnehmer mit direktem Vorsatz handelt.
Rz. 46
Nicht jede vorsätzlich falsche Angabe bedeutet eine Arglist des Versicherungsnehmers. Der Versicherungsnehmer muss vielmehr einen gegen die Interessen des Versicherers gerichteten Zweck verfolgen. Arglistig handelt der Versicherungsnehmer nur dann, wenn er in der Absicht handelt, das Regulierungsverhalten des Versicherers zu beeinflussen.
Rz. 47
Es ist nicht erforderlich, dass ein rechtswidriger Vermögensvorteil angestrebt wird. Arglist liegt daher auch und vor allem dann vor, wenn der Versicherungsnehmer einen gefälschten Schadenbeleg beibringt, selbst wenn dieser Beleg den tatsächlichen Wert des zu ersetzenden Gegenstandes wiedergibt.
Ebenso ist von Arglist auszugehen, wenn der Versicherungsnehmer einen nachträglich gefertigten – rückdatierten – Kaufvertrag vorlegt.
Rz. 48
Der Versicherer muss Arglist beweisen. Objektiv falsche Angaben sind jedoch ein Indiz für ein vors...