Rz. 36
Die Verwaltungsbehörde darf und muss die Frage der Eignung eigenverantwortlich und in vollem Umfang prüfen (BVerfGE 20, 365).
Rz. 37
Soweit jedoch der Strafrichter einen Sachverhalt bereits beurteilt hat, muss die Verwaltungsbehörde dessen Entscheidung achten. Sie ist dann grundsätzlich an die strafrichterliche Beurteilung der Fahreignung gebunden, ohne dass ihr noch ein eigenes Prüfungsrecht zustünde (§ 3 Abs. 4 StVG). Sie darf deshalb auch keine eigene Entziehungsverfügung auf einen Sachverhalt stützen, der noch Gegenstand eines Strafverfahrens ist (VGH Bad.-Württ. zfs 2007, 294; zfs 2009, 178; OVG Magdeburg NZV 2011, 55), auch nicht auf Vorverurteilungen, die dem Strafrichter bei seiner Entscheidung bekannt waren (VGH Bad.-Württ. zfs 2010, 415). Die Achtungspflicht gilt allerdings nur für den im Strafurteil festgestellten Sachverhalt und die dortige Eignungsbeurteilung (OVG Münster NZV 2014, 543)., d.h. also nicht für solche Verurteilungen, die von § 69 Abs. 1 S. 1 StGB nicht erfasst werden, aber auf ein hohes Aggressionspotential hindeuten (VGH Bad.-Württ. zfs 2016, 657) oder im Falle einer Verurteilung wegen einer mit einem Fahrrad begangenen Trunkenheitsfahrt, bei der der Richter eine Eignungsbeurteilung bekannt nicht vornehmen kann (OVG Berlin-Brandenburg NZV 2017, 281).
Rz. 38
Achtung: Bindung bereits für das vorbereitende Verfahren
Die in § 3 Abs. 4 StVG angeordnete Bindungswirkung gilt dabei nicht nur für die Maßnahme der Entziehung selbst, sondern nach ihrem Sinn und Zweck für das gesamte Entziehungsverfahren, beginnend mit der Einleitung des Strafverfahrens bis zu dessen förmlichem Abschluss (VGH Bad.-Württ. DAR 2014, 403). Sie schließt auch das vorbereitende Verfahren mit ein, weshalb die Behörde in diesen Fällen auch nicht die (lediglich vorbereitende) Beibringung eines Gutachtens anordnen darf (OVG Magdeburg NZV 2011, 55; OVG Nordrhein-Westfalen zfs 2012, 539).
Das gilt allerdings dann nicht, wenn gegen den Betroffenen lediglich ein Ordnungswidrigkeitenverfahren geführt wird (VGH München DAR 2007, 664).
Rz. 39
Entzieht die Behörde dennoch vor Abschluss eines einschlägigen Strafverfahrens die Fahrerlaubnis, ist die Entscheidung zwar formell rechtswidrig, jedoch dann nicht aufzuheben, wenn das Ermittlungsverfahren gem. § 170 Abs. 2 StPO eingestellt wird, im Übrigen der Sachverhalt jedoch eine verwaltungsrechtliche Entziehung rechtfertigt (Nieders. VGH zfs 2008, 114).
Nach rechtskräftigem Abschluss des Strafverfahrens reduziert sich die Bindungswirkung des § 3 Abs. 4 StVG allein auf das Verbot einer abweichenden Entscheidung. Soweit danach widersprüchliche Entscheidungen von Fahrerlaubnisbehörde und Strafgericht ausgeschlossen sind, wird der Sachverhalt für die Fahrerlaubnisbehörde wieder berücksichtigungsfähig, z.B. nach einem Freispruch mangels Beweisen (BVerwG zfs 2012, 592; BVerwG NZV 2013, 154).
Rz. 40
Achtung: Keine Bindungswirkung
Das Bundesverwaltungsgericht verneint eine Bindungswirkung für den Fall, dass der Richter die Wiedereignung des Täters im Urteil nicht positiv festgestellt oder er bei seiner Entscheidung nicht alle entscheidungserheblichen Tatsachen gekannt hatte.
Begründet wurde das damit, dass der Strafrichter wegen des Verwertungsverbotes auf getilgte oder tilgungsreife Vorverurteilungen keinen Zugriff habe (BVerwG NZV 1988, 37). Die Diskussion darüber, ob dabei die damals zulässige "ewige" Verwertbarkeit des § 52 Abs. 2 BZRG übersehen wurde, ist mit der zum 1.1.1999 erfolgten Änderung des § 52 Abs. 2 BZRG, der jetzt – auch für die Verwaltungsbehörde – nur noch eine zeitlich begrenzte Verwertung zulässt, überholt.
Rz. 41
Zuzustimmen ist dagegen dem Bundesverwaltungsgericht, wenn es in folgenden Fällen keine Bindungswirkung annimmt: