Jürgen Beck, Jürgen Brand
I. Allgemeines
Rz. 1
Im sozialgerichtlichen Verfahren steht in fast allen Fällen die Überprüfung der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes im Vordergrund. Da das Sozialrecht ganz überwiegend ein Gebiet der gewährenden Verwaltung und nur in wenigen Fällen ein Gebiet der Eingriffsverwaltung ist, ist im gerichtlichen Verfahren vor allem festzustellen, ob die zwingenden Vorschriften des Sozialverwaltungsverfahrens eingehalten worden sind und die Voraussetzungen der Anspruchsgrundlage durch die Verwaltung von der Sozialbehörde bzw. dem Sozialleistungsträger zu Recht als nicht vorliegend angesehen worden sind.
Rz. 2
Das Sozialverwaltungsverfahren ist vor allem im SGB X geregelt. Es wird durch Regelungen des SGB I ergänzt und entspricht weitgehend den Normen des VwVfG sowie der AO. Hervorzuheben ist der Amtsermittlungsgrundsatz in § 20 SGB X, das Recht auf Akteneinsicht nach § 25 SGB X sowie die Anhörungsverpflichtung des Sozialleistungsträgers gem. § 24 SGB X, wenn er in Rechte eines Betroffenen eingreifen will.
Rz. 3
Im Vordergrund des SGB X stehen die Vorschriften über die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes (§ 31 SGB X) und die Vorschriften über die Rücknahme und den Widerruf von Verwaltungsakten (§§ 44–49 SGB X).
Rz. 4
Die Vorschriften über die Rücknahme und den Widerruf von Verwaltungsakten kommen im Allgemeinen in Zusammenhang mit § 50 SGB X bei der Rückabwicklung von Leistungsverhältnissen in Betracht, z.B. wenn zuvor bewilligte Leistungen aufgehoben wurden und die gewährte Leistung zurückgefordert wird.
II. § 45 SGB X (Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsakts)
Rz. 5
Die Rücknahme nach § 45 SGB X setzt voraus, dass der Verwaltungsakt von Anfang an rechtswidrig war und den Betroffenen begünstigt. Aus dem Gesetzeswortlaut ist zu ersehen, dass grds. eine Rücknahme für die Vergangenheit nicht stattfinden soll. Dies gilt allerdings nicht, wenn der Vertrauensschutz (§ 45 Abs. 2 SGB X) ausscheidet.
Rz. 6
In den Fällen des § 45 SGB X ist vor allem zu prüfen, ob die Verwaltung die Rücknahme innerhalb der in § 45 Abs. 3 sowie Abs. 4 SGB X vorgeschriebenen Zeiträume vorgenommen hat. I.d.R. muss die Verwaltung innerhalb von zwei Jahren nach Bekanntgabe des Verwaltungsaktes (wenn Wiederaufnahmegründe vorliegen, gilt diese Frist nicht) ihn zurücknehmen. Unter bestimmten Voraussetzungen gilt eine 10-Jahres-Frist (§ 45 Abs. 3 S. 3 SGB X), aber auch eine kurze 1-Jahres-Frist (§ 45 Abs. 4 SGB X).
§ 45 SGB X schreibt eine Ermessensbetätigung der Sozialverwaltung vor! Allerdings gibt es Gebiete des Sozialrechtes, in denen eine Ermessensbetätigung bei § 45 SGB X nicht stattfinden muss, wie z.B. das Arbeitsförderungsrecht, das in § 330 SGB III eine entsprechende Regelung beinhaltet.
III. § 48 SGB X (Rücknahme eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung)
Rz. 7
§ 48 SGB X findet im Gegensatz zu § 45 SGB X sowohl für begünstigende als auch auf belastende Verwaltungsakte Anwendung. Die Vorschrift setzt voraus, dass es sich um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung handelt und eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen eingetreten ist. Grds. ist eine Aufhebung mit Wirkung für die Zukunft vorgesehen. Wenn die Voraussetzungen des § 48 Abs. 2 SGB X vorliegen, kann allerdings auch eine Aufhebung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse an stattfinden.
Ebenso wie in § 45 SGB X sind gem. § 48 Abs. 4 SGB X auch Fristen zu beachten, innerhalb deren der Sozialleistungsträger Verwaltungsakte zurücknehmen kann.
IV. § 44 SGB X (Aufhebung eines belastenden Verwaltungsakts trotz Bestandskraft)
Rz. 8
Die Vorschrift ist in der Rechtslandschaft ohne Beispiel. Durch sie wird die Bestandskraft von Verwaltungsakten und auch die Rechtskraft von Urteilen (fast) aufgehoben.
Rz. 9
Zu jeder Zeit kann ein Bürger den Sozialleistungsträger zwingen, zu untersuchen, ob bei einem bereits bestandskräftigen Verwaltungsakt das Recht unrichtig angewandt oder von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen wurde und deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind.
Bejahendenfalls wird der Verwaltungsakt für die Vergangenheit aufgehoben und die Sozialleistungen für max. vier Jahre nach § 44 Abs. 4 SGB X erbracht bzw. Beiträge erstattet. Andernfalls erfolgt eine Aufhebung für die Zukunft. Die Aufhebung für die Vergangenheit steht im Ermessen des Sozialleistungsträgers. Auch hier ist auf Sonderregelungen, wie z.B. im Arbeitsförderungsrecht in § 330 SGB III und anderen Vorschriften, hinzuweisen. Im Bereich des SGB II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) gilt gemäß § 40 Abs. 1 Nr. 2 SGB II anstelle einer Vier-Jahresfrist eine Einjahresfrist.
Rz. 10
Das Verwaltungsverfahren endet im Allgemeinen durch einen Bescheid, in dem Antragstellern eine Leistung gewährt oder die Leistungsgewährung abgelehnt wird.
Rz. 11
Für sein Tätigwerden im Verwaltungsverfahren kann der Anwalt keine Gebühren in Rechnung stellen. Dies ist im Gesetz erst ab einem erfolgreich absolvierten Widerspruchsverfahren möglich.