Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 15
BGH NJW-RR 2014, 760, 761:
Zitat
Gemäß § 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 ZPO hat der Berufungsführer konkrete Anhaltspunkte zu bezeichnen, die Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen im angefochtenen Urteil begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Da das Berufungsgericht an die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen grundsätzlich gebunden ist (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO), muss die Berufung, die den festgestellten Sachverhalt angreifen will, eine Begründung dahingehend enthalten, warum die Bindung an die festgestellten Tatsachen ausnahmsweise nicht bestehen soll. […]
Rz. 16
Um entsprechende Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen im angefochtenen Urteil zu hegen, reicht eine abstrakte Erwägung oder die bloße Vermutung der Unrichtigkeit der erstinstanzlichen Feststellungen nicht aus. Gefordert wird eine aus sich heraus verständliche Angabe, welche bestimmten Punkte des angefochtenen Urteils der Berufungskläger bekämpft und welche tatsächlichen oder rechtlichen Gründe er ihnen im Einzelnen entgegensetzt. Konkrete Anhaltspunkte können sich insbesondere aus Verfahrensfehlern ergeben, die dem Eingangsgericht bei der Feststellung des Sachverhalts unterlaufen sind. Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen können sich aber auch aus der Möglichkeit einer unterschiedlichen Wertung des Tatsachenstoffs ergeben.
BGH NJW 2023, 3496:
Zitat
Die Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts hinsichtlich der erstinstanzlichen Tatsachenfeststellung ist nicht auf den Umfang beschränkt, in dem eine zweitinstanzliche Tatsachenfeststellung der Kontrolle durch das Revisionsgericht unterliegt. Daher hat das Berufungsgericht die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen. Vielmehr können sich Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen im Sinne von § 529 I Nr. 1 ZPO auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Bewertungen der erstinstanzlichen Beweisaufnahme ergeben.
Und weiter BGH NJW-RR 2019, 1343:
Zitat
Das Berufungsgericht hat die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen. Zweifel im Sinne von § 529 I Nr. 1 ZPO liegen schon dann vor, wenn aus der für das Berufungsgericht gebotenen Sicht eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben wird, sich also deren Unrichtigkeit herausstellt. Bei der Berufungsinstanz handelt es sich um eine zweite – wenn auch eingeschränkte – Tatsacheninstanz, deren Aufgabe in der Gewinnung einer fehlerfreien und überzeugenden und damit richtigen Entscheidung des Einzelfalls besteht
Die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen des Gerichts des ersten Rechtszugs begründen und deshalb eine erneute Feststellung geboten sei, § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO, ist der revisionsrechtlichen Überprüfung entzogen. Dies gilt auch dann, wenn die (ergänzende) Beweisaufnahme in zweiter Instanz angeordnet worden, aber ergebnislos geblieben ist.
Rz. 17
Weiter können auch neue Angriffs- und Verteidigungsmittel erstinstanzliche Feststellungen zweifelhaft nach § 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 ZPO werden lassen. Angriffs- und Verteidigungsmittel sind neu, wenn sie erstmals im zweiten Rechtszug geltend gemacht werden. Zwar ist das BerGer gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO an die Feststellungen des Erstgerichts gebunden; werden jedoch zulässige Angriffs- und Verteidigungsmittel in die Berufungsinstanz eingeführt (§ 529 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. §§ 530, 531 Abs. 2, 532 S. 2 ZPO), wirkt sich dies letztlich auch auf die Regel des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO aus.
Um ein neues Angriffs- und Verteidigungsmittel handelt es sich dann, wenn ein streitiger Vortrag bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung in erster Instanz nicht vorgebracht und daher im erstinstanzlichen Urteil zu Recht gem. § 296a ZPO unberücksichtigt geblieben ist.
Das BerGer hat neue Angriffs- und Verteidigungsmittel immer dann zu berücksichtigen, wenn sie einen Gesichtspunkt betreffen, der vom Gericht des ersten Rechtszugs erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten worden ist (vgl. § 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO). Nach der Rechtsprechung des BGH findet diese Vorschrift aber nur unter der ungeschriebenen Voraussetzung Anwendung, dass die Rechtsansicht des Gerichts den erstinstanzlichen Sachvortrag der Partei beeinflusst hat und daher, ohne dass deswegen ein Verfahrensfehler gegeben wäre, (mit-)ursächlich dafür geworden ist, dass sich Parteivorbringen in das Berufungsverfahren verlagert hat. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn das Gericht des ersten Rechtszugs die Partei durch seine Prozessleitung oder seine erkennbare rechtliche Beurteilung des Streitverhältnisses davon abgehalten hat, zu bes...