A. Praktische Bedeutung des Europäischen Nachlasszeugnisses
Rz. 1
Differenzen im materiellen Erbrecht bzw. im IPR lassen sich bei grenzüberschreitenden Erbfällen im objektiven Sinne – also in den Fällen, in denen sich der Nachlass über mehrere Staaten verteilt – durch eine geschickte Nachlassgestaltung fast vollständig kompensieren. Eine echte Behinderung der grenzüberschreitenden Investitionen in Europa ergab sich bis zur Anwendbarkeit der EuErbVO aber in "ungeplanten" Fällen regelmäßig daraus, dass die Erben des über mehrere Mitgliedstaaten der EU verteilten Nachlasses in jedem Staat, in dem sich Nachlass befand, ein eigenes Nachlassverfahren durchführen mussten, um mittels eines landesüblichen Erbnachweises über den dort belegenen Nachlass zu verfügen. Das erforderte den Einsatz lokaler Rechtsberater und Behörden und verschlang Ressourcen in Form von Zeit und Geld. Bei diesem Albtraum von einer justiziellen Hecke, die die Erben bei der Sicherung ihres Vermögens behinderte, erschien die Vorstellung eines internationalen Erbenausweises, der dem Erben in jedem Mitgliedstaat den ungehinderten Zugriff auf den Nachlass ermöglicht, wie die Verwirklichung eines europäischen Wunschtraums. Das Europäische Nachlasszeugnis (ENZ) erfüllt diese Aufgabe und ist daher die praktisch wichtigste Errungenschaft der EuErbVO.
Rz. 2
Da dieses neuartige Instrument völlig unterschiedliche Systeme im Erbrecht, im Sachenrecht und im Nachlassverfahrensrecht überbrücken muss, stellte die Regelung an den europäischen Gesetzgeber außerordentliche Anforderungen. Die Praxis der einzelnen Länder ist weiterhin gefordert, für die Ausstellung und die Verwendung des ENZ angemessene flexible Lösungen zu finden, um die Ansprüche auf Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit zu verwirklichen.
B. Inhalt des Europäischen Nachlasszeugnisses
I. Aufbau des Europäischen Nachlasszeugnisses
Rz. 3
Der Inhalt des Nachlasszeugnisses wird in Art. 68 EuErbVO in 15 Posten (lit. a bis o) aufgegliedert. Diese Posten lassen sich zu folgenden drei Gruppen gliedern:
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Die ersten sieben Punkte (lit. a bis g) betreffen quasi das "Rubrum" (Angaben zu Erblasser, Antragsteller, Gericht etc.). |
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Die zweite Gruppe (lit. h bis k) zählt die rechtlichen Grundlagen für das ausgewiesene Erbrecht auf (Eheverträge, Erbstatut, Verfügungen von Todes wegen, Annahme- und Ausschlagungserklärungen der Begünstigten). |
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Es folgen (lit. l bis o) das ausgewiesene Erbrecht (der Tenor), also die Quoten der Erben, die gegebenenfalls einem Erben oder dinglichen Vermächtnisnehmer zustehenden Rechte und ihre Beschränkungen sowie schließlich die Nennung der Testamentsvollstrecker und Nachlassverwalter unter Angabe ihrer Befugnisse. Wegen der großen Unterschiede bei der Ausgestaltung der Beteiligung am Nachlass bei gesetzlicher und testamentarischer Erbfolge in den Rechten der Mitgliedstaaten sind an dieser Stelle – quasi eine der Schnittstellen zwischen dem europäischen Verordnungsrecht und dem nationalen materiellen Recht – in zahlreichen Fällen sehr unterschiedliche Vorstellungen in den unterschiedlichen Mitgliedstaaten darüber zu lösen, wie hier die einzelnen Rubriken des ENZ auszufüllen sind. |
Rz. 4
Der Verordnungsgeber hat offenbar erkannt, dass eine abschließende detaillierte Regelung in der EuErbVO nicht möglich ist und unvorhergesehene Problemfälle auftreten werden, wenn die ersten praktischen Erfahrungen vorliegen. Um trotz der Notwendigkeit verbindlicher Vorgaben für den Inhalt des ENZ die Möglichkeit der jederzeitigen Anpassung zu erhalten, hat er eine pragmatische Lösung darin gefunden, in Art. 67 Abs. 1 S. 2 EuErbVO die Verwendung eines Formblatts vorzuschreiben, das von einem gesonderten Ausschuss (Komitologie-Gremium) entworfen worden ist. Wegen der hinreichend flexibel gehaltenen Vorgaben in Art. 68 EuErbVO wird die Kommission mit dem Formblatt die Möglichkeit erhalten, auf zahlreiche in der Praxis auftauchende Unsicherheiten und Probleme zeitnah zu reagieren und diese im Vergleich zur Änderung der Verordnung erheblich rascher unbürokratischer auf administrativer Ebene beheben zu können. Allerdings ist das vor Inkrafttreten der EuErbVO von der Kommission entworfene Formblatt bislang noch nicht modifiziert worden. Stattdessen hat sich der EUGH in mehreren Entscheidungen mit dem ENZ auseinandergesetzt und dazu Stellung genommen, welche Angaben in das ENZ aufzunehmen sind.
II. Vollzertifikat und Teilzertifikat
Rz. 5
Art. 39 des Kommissionsentwurfs vom 14.10.2009 sah noch ausdrücklich die Möglichkeit vor, ein "Teilzeugnis" zu beantragen, das nur einzelne Rechte an dem Nachlass ausweist. Die endgültige Fassung der EuErbVO enthält diese Vorschrift nicht mehr. Dennoch ergeben sich m.E. Hinweise darauf, dass nicht in jedem Fall das gesamte Formblatt auszufüllen ist. So wird man schon bei gesetzlicher Erbfolge keine Angaben zu Vermächtnissen oder zur Testamentsvollstreckung aufnehmen. Auch muss der Antragsteller Angaben nur insoweit machen, wie sie zur Beschreibung des Sachverhalts, "dessen Bestätigung der Antragsteller begehrt", benötigt werden. Das Zeugnis kann gem. Art. 63 Abs. 2 EuErbVO als Nachweis "für einen oder mehrere" der folgenden speziellen Aspekte verwandt werden.