§ 6 Grenzüberschreitende Unternehmensverträge / B. Gemeinschaftsrechtliche Ausgangslage

Rz. 2

Nach Hinweisen zur Frage der Zulässigkeit von Unternehmensverträgen sucht man im Gemeinschaftsrecht vergeblich, obwohl bereits mehrfach Versuche unternommen wurden, eine diesbezügliche Gesetzgebung in die Wege zu leiten. So sollten ursprünglich in die Verordnung über die europäische Aktiengesellschaft auch ausführliche Regelungen zum Konzernrecht aufgenommen werden. Entsprechende Entwurfsteile wurden jedoch bald wieder gestrichen.^[3] Auch die Entwürfe zu einer Konzernrechtsrichtlinie, die bereits 1974 vorlagen und die einen Beherrschungsvertrag und einen Abhängigkeitsbericht ähnlich dem deutschen Muster vorsahen, wurden letztlich zurückgezogen.^[4] Die 13. Richtlinie auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts zu Übernahmeangeboten (Übernahmerichtlinie), deren Umsetzung zum 14.7.2006 vorgenommen wurde, hat zahlreiche Änderungen und Ergänzungen des WpÜG nach sich gezogen.^[5] Zur Frage der Zulässigkeit und Durchführung von grenzüberschreitenden Unternehmensverträgen enthielt die Übernahmerichtlinie jedoch keine Regelungen.

Rz. 3

Allerdings sind im Bereich des Gemeinschaftsrechts die Vorgaben durch die Niederlassungsfreiheit nach Art. 49, 54 AEUV^[6] (ex-Art. 43, 48 EGV) zu beachten. Die Grundfreiheiten des AEUV erfassen die sekundäre Niederlassungsfreiheit, also die Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften in einem anderen Mitgliedstaat. Jedenfalls insoweit gelten sie nach der Rechtsprechung des EuGH in Sachen Centros, Überseering und Inspire Art als unstreitig^[7] und sind Ausdruck des Binnenmarktprinzips in der EU. Gemäß Art. 3 Abs. 1 lit. b) AEUV (ex-Art. 3 Abs. 1 lit. c) EGV) und Art. 26 Abs. 2 AEUV (ex-Art. 14 Abs. 2 EGV) hat dieses zum Ziel, einen Raum ohne Binnengrenzen zu schaffen, in welchem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet wird.^[8] Da sich der Umfang der Grundfreiheiten nicht aus dem AEUV selbst ablesen lässt, muss insofern die ausführliche Rechtsprechung des EuGH herangezogen werden, wobei er eine weite Auslegung vornimmt.^[9] In den Entscheidungen Cartesio,^[10] Cadburry/Schweppes,^[11] VALE^[12] und Polbud^[13] lässt er aber auch – ohne dass er grundsätzlich davon ausgeht, dass das Unternehmen, das sich auf die Niederlassungsfreiheit beruft, auch eine wirtschaftliche Tätigkeit im Zielstaat ausübt – einen Anspruch zu. Es berührt unzweifelhaft die Niederlassungsfreiheit, wenn einem Unternehmen das Recht verwehrt wird, Einfluss auf seine Tochtergesellschaft im Ausland zu nehmen. Insbesondere ist es von ausschlaggebender Bedeutung, ob Gewinne und Verluste der Tochter wie Gewinn und Verlust der Mutter verrechnet werden dürfen.

[3] MüKo-AktG/Altmeppen, Einl. §§ 291 ff. Rn 46; zum Vorschlag selbst ZHR 1985, 446.

[4] Vgl. hierzu auch MüKo-AktG/Altmeppen, Einl. §§ 291 ff. Rn 47; zu Entwicklungen zum Konzernrecht auf europäischer Ebene Lutter, BB 2004, 1.

[5] Richtlinie 2004/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21.4.2004 betreffend Übernahmeangebote, ABl EG Nr. L 142, S. 12 ff.; vgl. dazu Maul, NZG 2005, 151; Mülbert, NZG 2004, 633; Hopt, ZIP 2005, 461, 471.

[6] "Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union", seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1.12.2009; er löst den EG-Vertrag ab und bildet mit dem EU-Vertrag (Gründungsverträge) die primärrechtliche Grundlage der EU.

[7] Sie genießen außerdem auch einen Anwendungsvorrang im Vergleich zu den nationalen, den Grundfreiheiten widersprechenden Vorschriften; vgl. etwa Cordewener, DStR 2004, 6, 9. Zu Fragen der Durchsetzung der Rechte aus der Niederlassungsfreiheit vgl. Cordewener, DStR 2004, 6, 10 ff.

[8] Vgl. hierzu auch Rödder, DStR 2004, 1629.

[9] Cordewener, DStR 2004, 6, 7.

[10] EuGH, Urt. v. 16.12.2008 – C-210/06 (Cartesio Oktató és Szolgáltató), NZG 2009, 61.

[11] EuGH, Urt. v. 12.9.2006 – C-196/04 (Cadburry/Schweppes), NZG 2006, 835.

[12] EuGH, Urt. v. 12.7.2012 – C-378/10 (VALE Építési kft), NZI 2012, 937.

[13] EuGH, Urt. v. 25.10.2017 – C-106/16 (Polbud), ZIP 2017, 215; dazu Bayer/J. Schmidt, BB 2018, 2562.