1. Grenzüberschreitende Verlustverrechnung
Rz. 79
Von Interesse für die Beurteilung der Unionsrechtmäßigkeit der deutschen Organschaftsregelungen ist die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Marks & Spencer plc gegen David Halsey, Inspector of Taxes. Sie ist Ausgangspunkt einer Rechtsprechung, welche die Entwicklung allgemeiner Grundsätze zur Behandlung grenzüberschreitender Verlustverrechnung zur Folge hat. In dieser Rechtssache hatte der EuGH die Vereinbarkeit der britischen Regelung zum Konzernabzug mit dem Gemeinschaftsrecht zu beurteilen. Besondere Bedeutung hatte dieses Verfahren für das Steueraufkommen der einzelnen Mitgliedstaaten, so dass das Interesse an dessen Ausgang außerordentlich groß war. Im Mittelpunkt stand die Frage, ob der britische "group relief", der keine Verrechnung von Gewinnen der Inlandsmuttergesellschaften mit Verlusten der Auslandstochtergesellschaften zulässt, mit Art. 43 und 48 EGV (jetzt: Art. 49 und 54 AEUV) vereinbar ist.
2. Sachverhalt
Rz. 80
Konkret liegt dem Verfahren der folgende Sachverhalt zugrunde: Die Marks & Spencer plc mit Sitz im Vereinigten Königreich ist die Hauptgesellschaft eines Konzerns. Sie hat über eine Holdinggesellschaft mit Sitz in den Niederlanden u.a. Tochtergesellschaften mit Sitz in Deutschland, Belgien und Frankreich. Nachdem die Tochtergesellschaften jahrelang Verluste verzeichneten, stellte das Unternehmen seine Tätigkeit in Frankreich, Deutschland und Belgien im Jahre 2001 ein. Marks & Spencer stellte in den Jahren 2000 und 2001 beim Inspector of Taxes Anträge auf den Konzernabzug der durch die Tochtergesellschaften entstandenen Verluste, da ein solcher Abzug im britischen Steuerrecht zulässig sei. Die Anträge wurden jedoch mit der Begründung abgelehnt, dass die gesetzliche Regelung des Konzernabzugs keine Anwendung auf Tochtergesellschaften finde, die im Vereinigten Königreich weder ihren Sitz hätten noch sich dort wirtschaftlich betätigten. Die Klage bei den Special Commissioners (Finanzgericht erster Instanz) hatte keinen Erfolg. Das Gericht sah auch keinen Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht. Erst das Rechtsmittel beim High Court of Justice, Chancery Division, führte zu einer Vorlage beim EuGH.
3. Schlussanträge des Generalanwalts vom 7.4.2005
Rz. 81
Der Generalanwalt sieht in der britischen Regelung eine Beschränkung der britischen Gesellschaft beim Verlassen des Landes, da ihr eine ungünstige Behandlung widerfährt, wenn sie Tochtergesellschaften in anderen Mitgliedstaaten gründen möchte. Die britische Regelung schaffe ein Hemmnis, das die Gesellschaften mit Sitz im Vereinigten Königreich davor abschrecke, Tochtergesellschaften in anderen Mitgliedstaaten zu gründen.
Rz. 82
Der Generalanwalt prüft sodann, ob eine Rechtfertigungsmöglichkeit für die beschränkende Maßnahme besteht. Das Argument der deutschen Regierung, dass ansonsten eine Verringerung der Steuereinnahmen erfolge und dies zu Haushaltsrisiken führe, wird mit dem Verweis auf die Rechtsprechung des EuGH abgelehnt, wonach dies grundsätzlich nicht als zwingender Grund des Allgemeininteresses anerkannt ist. Eingehender setzt sich der Generalanwalt mit zwei anderen möglichen Rechtfertigungsgründen auseinander, nämlich zum einen mit dem steuerlichen Territorialitätsgrundsatz und zum anderen mit der Notwendigkeit, die Kohärenz des Steuersystems zu gewährleisten.
Rz. 83
Unter dem steuerlichen Territorialitätsgrundsatz versteht man, dass ein Staat keine steuerliche Vergünstigung gewähren dürfe, wo er über keine Zuständigkeit zur Besteuerung verfüge. In diesem Zusammenhang verweist der Generalanwalt allerdings darauf, dass im vorliegenden Fall der Antrag auf Steuerabzug von der Muttergesellschaft gestellt wurde, die der unbeschränkten Steuerpflicht im Vereinigten Königreich unterliege. Das Territorialitätsprinzip sei daher nicht betroffen.
Rz. 84
Als wichtiges Korrektiv im Gemeinschaftsrecht dient jedoch der Begriff der steuerlichen Kohärenz. Im Rahmen der steuerlichen Kohärenz soll vermieden werden, dass die Anwendung der Verkehrsfreiheiten zu ungerechtfertigten Beeinträchtigungen der inneren Systematik der nationalen Steuersysteme führt. Dabei ist darauf zu achten, dass die Integrität der nationalen Steuersysteme geschützt wird, ohne dass die Integration der Systeme im Rahmen des Binnenmarktes behindert wird.
Rz. 85
Der Generalanwalt verweist darauf, dass eine Vergünstigung dann versagt werden kann, wenn sich in der Systematik der Regelung erweist, dass ein unmittelbarer notwendiger Zusammenhang zwischen der Gewährung einer steuerlichen Vergünstigung und dem Ausgleich dieser Vergünstigung durch eine bestimmte Steuererhebung besteht. Die Klägerin macht hingegen geltend, dass ein unmittelbarer Zusammenhang nur im Rahmen ein und derselben Steuerart und bei ein und demselben Steuerpflichtigen vorliegen könne. Dies sei jedoch vorliegend nicht der Fall, da die der Muttergesellschaft gewährte Vergünstigung und die Abgabe, die den Tochtergesellschaften auferlegt werden könn...