Dr. Konrad Osthold, Désirée Goertz
Rz. 220
Das Inventar (teilweise auch Inventarrecht) ist eines der schwer verständlichsten Institute des Erbenhaftungsrechts. Die unbefangene Lektüre der §§ 1993 ff. BGB erweckt angesichts des Wortlautes (§ 1993: "Der Erbe ist berechtigt"; § 1994 Abs. 1 S. 2: "haftet der Erbe für die Nachlassverbindlichkeiten unbeschränkt"; § 2000 S. 3: "bedarf es zur Abwendung der unbeschränkten Haftung der Inventarerrichtung nicht") und der systematischen Stellung den Eindruck, das Inventarrecht wäre ein Haftungsbeschränkungsmittel des Erben. Dieser erste Eindruck ist anhand des Umstandes, dass das Inventar bis zu seiner (Um-)Gestaltung im BGB stets ein Haftungsbeschränkungsmittel war und in den romanischen Rechtsordnungen sowie nach den §§ 802 ff. ABGB auch immer noch ist, umso mehr gerechtfertigt. Im Ergebnis ist das Inventar hingegen in seiner heute geltenden Form vor allem ein Angriffsmittel der Nachlassgläubiger.
Rz. 221
Dies spiegelt sich auch in der Anzahl der Normen wider: Während das Inventarrecht des Erben lediglich im § 1993 BGB geregelt ist, ist das Inventar (auf Antrag) der Gläubiger Gegenstand der Mehrzahl der anderen Paragraphen dieses Untertitels. Die Gläubiger können dem Erben nach § 1994 BGB durch das Nachlassgericht eine Frist zur Errichtung eines Inventars setzen lassen, dies begründet aber keine Pflicht, sodass die Errichtung nicht einklagbar ist. Dies erklärt sich mit dem Zweck des Inventars: Es ist, anders als die Nachlassverzeichnisse aus § 2314 BGB oder § 2215 BGB, kein Bestands-, sondern ein Vollstreckungsverzeichnis. Es soll dem Gläubiger ermöglichen, die Nachlassgegenstände zu erkennen und in diese – und nicht in das Eigenvermögen des Erben – zu vollstrecken. Dies ergibt freilich nur Sinn, wenn die Haftungsbeschränkung überhaupt noch möglich ist. Bei Unterlassen oder nicht ordnungsgemäßer Errichtung eines Inventars haftet der Erbe aber endgültig unbeschränkt (§§ 1994 Abs. 1 S. 2, 2005 BGB). Dies ist dementsprechend die Sanktion für die Verletzung der Obliegenheit des Erben. In einer Erbengemeinschaft tritt diese Folge immer nur für den betroffenen Miterben ein.
Rz. 222
In den folgenden Fällen tritt eine unbeschränkte Haftung ein:
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Das Inventar wird nicht innerhalb der vom Gericht gesetzten Frist errichtet, § 1994 Abs. 1 S. 2 BGB, auch wenn zuvor ein Nachlassinsolvenzverfahren mangels Masse abgelehnt wurde. |
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Es wird absichtlich ein unvollständiges Inventar errichtet, das erhebliche Lücken aufweist, § 2005 Abs. 1 Alt. 1 BGB. |
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Nicht bestehende Nachlassverbindlichkeiten werden zur Benachteiligung vorhandener Nachlassgläubiger aufgeführt. |
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Der Erbe beantragt die amtliche Aufnahme des Inventars nach § 2003 BGB und verletzt die ihm obliegende Auskunftspflicht nach § 2003 Abs. 2 BGB durch Auskunftsverweigerung oder -verzögerung, § 2005 Abs. 1 S. 2 BGB. |
Rz. 223
Eine unbeschränkte Haftung nur gegenüber bestimmten Gläubigern entsteht in folgenden Fällen:
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Es wird die Abgabe der eidesstattlichen Versicherung nach § 2006 Abs. 1 BGB verweigert. Dann haftet der Erbe dem Gläubiger, der den Antrag auf Abgabe der eidesstattlichen Versicherung gestellt hat, unbeschränkt, § 2006 Abs. 3 S. 1 BGB. |
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Diese unbeschränkte Haftung dem beantragenden Gläubiger gegenüber besteht gem. § 2006 Abs. 3 S. 2 BGB auch dann, wenn der Erbe grundlos nicht zum Termin erscheint. |
Hält ein Miterbe mehrere Erbteile, so ist nach § 2007 S. 1 BGB jeder Erbteil haftungsrechtlich getrennt von den anderen zu betrachten. Es kann also bei einem Erben gleichzeitig zu unterschiedlichen Haftungssituationen kommen.
Rz. 224
Nach § 1993 BGB hat der Erbe jederzeit das Recht, aus eigenem Antrieb ein Inventar zu errichten. Außer der Wahrung der Haftungsbeschränkungsmöglichkeit bringt dies wenige Vorteile. Der Wert der in der Literatur bemühten Beweiserleichterungen ist fraglich, denn sofern sich ein Nachlassgläubiger im Erkenntnisverfahren auf die Existenz eines Gegenstandes beruft, welcher nicht im Inventar aufgeführt ist, trifft ihn dafür ohnehin die Beweislast. Die Vermutung des § 2009 BGB – dass außer den im Inventar aufgeführten Gegenständen zum Zeitpunkt des Erbfalles keine weiteren zum Nachlass gehören – entspricht damit der auch sonst geltenden Beweislastregelung. Wird also die Herausgabe oder die Schlechtverwaltung eines Nachlassobjektes geltend gemacht, so hat der Kläger dessen Existenz zunächst einmal zu beweisen – unabhängig von der Regelung des § 2009 BGB. Die praktische Relevanz des § 2009 BGB liegt daher nicht im Anwendungsbereich des § 1978 oder der §§ 1973 f., 1990 ff. BGB, sondern im Rahmen der Vollstreckungsgegenklage des § 785 ZPO, bei der der Erbe die Beweislast dafür trägt, dass ein Gegenstand nicht zum Nachlass gehört. Hier erleichtert die gesetzliche Vermutung den negativen Beweis der Nachlasszugehörigkeit eines Gegenstandes unter Berufung auf das Inventar. Zudem erstreckt sich die Vermutung nicht auf die dort angegebenen Werte. Vor diesem Hintergrund ist das Inventar nicht zu Unrecht ...