Rz. 14

 

Fallbeispiel 71: Eingliederungshilfe in unterschiedlichen Formen

S hat einen Grad der Behinderung von 100. Der Nachteilsausgleich "g" ist anerkannt. Er erbt nach seiner verstorbenen Mutter eine vermietete Wohnung (Wert 100.000 EUR) mit Mieteinnahmen in Höhe von 550 EUR monatlich.

1. Variante: S besucht seit vielen Jahren eine Behindertenwerkstatt, lebt aber ansonsten in einer eigenen Wohnung und zahlt dort 400 EUR Warmmiete incl. Warmwasser. Er verfügt über ein Entgelt aus der Beschäftigung in der Werkstatt.

2. Variante: S erhält in einer Einrichtung der Behindertenhilfe – heute genannt besondere Wohnform – Eingliederungshilfeleistungen.

Im Falle des S sind der Anspruch auf Eingliederungshilfe und der Hilfen zur Sicherung des Lebensunterhalts in beiden Fallgruppen jeweils gesondert zu prüfen.

1. Wohnen zu Hause und arbeiten in der Werkstatt

 

Rz. 15

Falllösung Fallbeispiel 71 – Variante 1:

Allgemein gilt:

S hat als dauerhaft voll erwerbsgeminderter Mensch Grundsicherungsbedarf nach §§ 41 ff. SGB XII. Das sind 2021 446 EUR. Hinzu kommen der Mehrbedarf und die Kosten der Unterkunft. Es gelten die Einkommensanrechnungsvorschriften der §§ 82 ff. SGB XII.

Bedarfsrechnung Fallbeispiel 71:

Die Leistung im Arbeitsbereich einer anerkannten Werkstätte für behinderte Menschen (§§ 138 Abs. 1 Nr. 3, 111 Abs. 1 Nr. 1, 58 SGB IX) ist Eingliederungshilfe in der Form der Rehabilitationsleistung. Die Werkstätten erhalten für die Leistungen im Arbeitsbereich vom zuständigen Rehabilitationsträger angemessene Vergütungen (§ 58 Abs. 3 SGB IX). Der Betroffene erhält eine Kostenübernahmeerklärung.[13]

 

Rz. 16

Der behinderte Mensch schließt mit dem Einrichtungsträger der Werkstätte einen Werkstattvertrag, aus dem er persönlich berechtigt und verpflichtet ist. Die Rechtsstellung und das Arbeitsentgelt sind in § 221 SGB IX geregelt.

Im Werkstattvertrag wird geregelt, welche Leistungen der Einrichtungsträger im Einzelnen erbringt. Bezüglich seiner Tätigkeit in einer Werkstätte für behinderte Menschen gilt, dass behinderte Menschen im Arbeitsbereich anerkannter Werkstätten, wenn sie nicht Arbeitnehmer sind, zu den Werkstätten in einem arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnis stehen, soweit sich aus dem zugrundeliegenden Sozialleistungsverhältnis nichts anderes ergibt. Die Werkstätten zahlen aus ihrem Arbeitsergebnis an die im Arbeitsbereich beschäftigten behinderten Menschen ein Arbeitsentgelt.

 

Rz. 17

Wenn das Arbeitsentgelt von S aus der Werkstätte für behinderte Menschen 150 EUR (nach § 82 SGB XII bereinigt) beträgt und aus der Vermietung der Wohnung 550 EUR monatlich angerechnet werden können, dann hätte S ein monatliches Einkommen von 700 EUR zur Verfügung, das er bedarfsdeckend einsetzen könnte. Das reicht aber nicht zur Deckung seines grundsicherungsrechtlichen Bedarfs, so dass die Frage der Vermögensverwertung nach § 90 SGB XII im Raum steht.

 

Rz. 18

Die Besonderheit des Falles besteht hier aber darin, dass die geerbte Wohnung als Zufluss im Bedarfszeitraum im SGB XII zunächst immer Einkommen im Sinne von §§ 82 ff. SGB XII ist, das aber erst ab dem Moment angerechnet wird, ab dem der Bedürftige frei verfügen kann. Durch die Erbschaft ist also Einkommen zugeflossen, das nach den Regeln der §§ 82 ff. SGB XII anzurechnen und als einmaliges Einkommen nach § 82 Abs. 7 SGB XII zu verteilen ist. Dann erst wandelt es sich um in Vermögen nach § 90 SGB XII.

Die Wohnung ist sodann als Vermögen tatsächlich wie rechtlich verwertbar. Sie stellt kein Schonvermögen im Sinne von § 90 Abs. 2 Nr. 8 SGB XII dar, weil sie nicht selbst bewohnt ist. Hier kann nur noch § 90 Abs. 3 SGB XII helfen.

Ggf. wäre zu überlegen, ob man durch Selbstbewohnen aus der Immobilie Schonvermögen nach § 90 Abs. 2 Nr. SGB XII machen könnte.

 

Rz. 19

Für die erbrachten Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 138 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX sind Einkommen (§§ 135 ff. SGB IX) und Vermögen (§§ 138 ff. SGB IX) gesondert zu prüfen.

Das Einkommen des S aus Miete ist zwar eine Einkunftsart i.S.v. § 2 Abs. 2 EStG, erreicht aber nicht den Grenzbetrag des § 136 Abs. 2 SGB IX, ab dem generell ein Eigenbeitrag geleistet werden muss. Hinzu kommt § 138 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX, wonach ein Beitrag generell für die Leistungen zu Teilhabe am Arbeitsleistungen nach § 111 Abs. 1 SGB IX nicht zu leisten ist.

Das Vermögen des S überschreitet zwar den Vermögensfreibetrag nach § 139 SGB IX. Aber auch hier gilt nach § 140 Abs. 3 SGB IX § 138 Abs. 1 SGB IX entsprechend. Damit muss sich S an den Kosten der Werkstätte nicht aus eigenen Mitteln beteiligen. Er hat aber einen ungedeckten Bedarf bei der Grundsicherung des §§ 41 ff. SGB XII mit grundsätzlich einsatzpflichtigem Vermögen nach § 90 Abs. 2 Nr. 8 SGB XII, so dass der eingliederungshilferechtlich gewollte Schutz letztendlich für S keine Wirkung entfaltet.

Der Gesetzgeber des Bundesteilhabegesetzes hat solche Ungereimtheiten bei der Schaffung des SGB IX nicht bearbeitet.

2. Wohnen und Leben in einer besonderen Wohnform (früher stationäre Einrichtung)

 

Rz. 20

Falllösung Fallbeispiel 71 – Variante 2:

Eine Unterbringung in einer stationären Einr...

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