Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 24
Fallbeispiel 72: Der Rentenbezug aus einer Werkstatttätigkeit
Der behinderte S arbeitete seit mehr als 20 Jahren in einer Behindertenwerkstatt. Er lebt in einer eigenen Wohnung und erhält neben existenzsichernden Leistungen des SGB XII Leistungen der Eingliederungshilfe zusätzlich in der Form der Assistenzleistungen nach § 113 Abs. 2 Nr. 2 SGB IX. Seine Eltern möchten ihm und seiner Schwester schon lebzeitig etwas zuwenden und interessieren sich für die Möglichkeiten und Notwendigkeiten eines Behindertentestaments und fragen nach den Möglichkeiten, die sich aus dem neuen Bundesteilhabegesetz ergeben.
Rz. 25
Menschen, die nur Eingliederungshilfe benötigen und ihren Elementarbedarf durch eigene Mittel (z.B. aus Erwerbstätigkeit, Rente oder geschontem Einkommen) sichern können, können von der Neuregelung des SGB IX partizipieren. Der unmittelbare Zufluss einer Erbschaft, eines Vermächtnisses, eines Pflichtteilsanspruchs ist für sie kein Einkommen mehr, sondern Vermögen mit erheblichen Schonbeträgen oberhalb des § 90 SGB XII. Aber gibt es solche Fälle überhaupt?
In der Diskussion um das Behindertentestament scheint es häufig so, als dass Menschen mit Behinderung immer auch gleichzeitig Sozialhilfeempfänger sind. Das ist aber nicht zwingend. Behinderte Menschen können insbesondere im fortgeschrittenen Alter häufig ihren Grundsicherungsbedarf ganz oder teilweise selbst decken. Das ist z.B. dann der Fall, wenn sie Hinterbliebenenversorgung beziehen oder lange genug in einer Werkstatteinrichtung für behinderte Menschen gearbeitet haben.
Rz. 26
Im Werkstattvertrag wird geregelt, welche Leistungen der Einrichtungsträger im Einzelnen erbringt. Behinderte Menschen im Arbeitsbereich anerkannter Werkstätten stehen zu den Werkstätten in einem arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnis, soweit sich aus dem zugrundeliegenden Sozialleistungsverhältnis nichts anderes ergibt. Die Werkstätten zahlen aus ihrem Arbeitsergebnis an die im Arbeitsbereich beschäftigten behinderten Menschen ein Arbeitsentgelt (§ 221 Abs. 2 SGB IX). Ihre Tätigkeit ist rentenversicherungspflichtig (§ 1 S. 1 Nr. 2 SGB VI). Es werden Rentenbeiträge abgeführt und diese Beiträge werden auf die sogenannte Wartezeit angerechnet. Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit und seitdem voll erwerbsgemindert waren und die Wartezeit von 20 Jahren erfüllt haben, haben einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung. Dazu muss der Mensch mit Behinderung nicht einmal seine Beschäftigung aufgeben, sondern kann im sozialen Umfeld des Arbeitgebers bleiben.
Rz. 27
Für die Höhe der Rente spielt es keine Rolle, wie hoch das tatsächliche Einkommen in der Einrichtung war. Die geringen Entgelte werden in der Rentenversicherung aufgestockt. Nach § 162 Nr. 2 SGB VI werden als Einnahmen mindestens 80 % der sog. Bezugsgröße zugrunde gelegt. Man tut also so, als hätte der behinderte Mensch 80 % des durchschnittlichen Verdienstes aller Versicherten verdient (2021 = 80 % v. 3.462 EUR = 2.796,00 EUR West und 80 % v. 3.278 EUR = 2.622,40 EUR Ost). Und schließlich wird angenommen, dass der behinderte Mensch bis zum 60. Lebensjahr gearbeitet hat. So ist es möglich, dass der Mensch mit Behinderung durch seine Werkstatttätigkeit nach 20 Beitragsjahren brutto im Durchschnitt eine Rente von ca. 800–900 EUR erreichen kann, zuzüglich der Versicherung in der Kranken- und Pflegeversicherung.
Rz. 28
Damit steht ein Mensch mit Behinderung, der aus der Werkstatttätigkeit eine Erwerbsminderungsrente bezieht, mit einem durchschnittlich ursprünglich gesunden Bezieher einer Erwerbsminderungsrente gleich. Nach den Zahlen der deutschen Rentenversicherung betrug die durchschnittliche volle Erwerbsminderungsrente am 31.12.2019 in der allgemeinen Rentenversicherung in den alten Bundesländern 818 EUR für Männer und 835 EUR für Frauen.
Die Höhe einer solchen Erwerbsminderungsrente kann also fast den Betrag erreichen, den ein Bedürftiger ohne Einkünfte in der Sozialhilfe (SGB XII)
zur Existenzsicherung zur Verfügung haben müsste.
Rz. 29
Bedarfsrechnung Fallbeispiel 72:
Rz. 30
Menschen können zusätzlich wohngeldberechtigt sein. Menschen in Heimeinrichtungen sind nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 WoGG grundsätzlich wohngeldberechtigt. Nach § 7 Abs. 1 Nr. 5 WoGG sind Empfänger von Grundsicherung nach §§ 41 ff. SGB XII und nach § 7 Abs. 1 Nr. 6 SGB XII von Hilfe zum Lebensunterhalt nach §§ 27 ff. SGB XII sowie nach § 7 Abs. 1 Nr. 7 SGB XII von anderen Hilfen in einer stationären Einrichtung, die den Lebensunterhalt umfassen, vom Bezug von Wohngeld ausgeschlossen, wenn bei der Berechnung Kosten der Unterkunft berücksichtigt worden sind. Wer aus eigenen Mittel den existentiellen Bedarf abdecken kann, hat somit grundsätzlich auch eine Chance seine Mittel durch zusätzliche Leistungen aus Wohngeld aufzustocken.
Allerdings kann der Anspruch ausgeschlossen sein, soweit die Inanspru...