Rz. 95
Die Löschungsrechte der betroffenen Person und die hiermit korrespondierenden Löschungspflichten des Verantwortlichen werden nicht ausnahmslos gewährt. Vielmehr sehen sowohl Art. 17 DSGVO, als auch § 35 BDSG-Neu umfangreiche Ausnahmen vor, in denen ein Löschungsanspruch bzw. eine Löschpflicht nicht besteht. Diese sollen im Folgenden näher beleuchtet werden.
1. Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Information, Art. 17 Abs. 3 lit. a) DSGVO
Rz. 96
Ein Löschungsanspruch der betroffenen Person und eine Löschpflicht des Verantwortlichen besteht nicht, soweit die Verarbeitung zur Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Information weiterhin erforderlich ist.
Rz. 97
In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist seit jeher anerkannt, dass zum effektiven Persönlichkeitsschutz auch der sog. Indiskretionsschutz gehört. Dies ist das Recht des Individuums, in gewählter Anonymität zu bleiben und die eigene Person nicht in identifizierbarer Weise in der Öffentlichkeit dargestellt zu sehen. Allerdings wird dieser Anonymitätsschutz nicht absolut gewährt, sondern kann im Einzelfall vom Informationsinteresse der Öffentlichkeit und von der durch Art. 10 EMRK geschützten Presse- und Rundfunkfreiheit überlagert sein. So weist der EGMR immer wieder darauf hin, dass Art. 10 Abs. 2 der EMRK wenig Raum für Einschränkungen der freien Meinungsäußerung auf dem Gebiet der politischen Diskussion oder bei Fragen des öffentlichen Interesses lässt. Die Grenzen zulässiger Kritik und Berichterstattung greifen immer weniger, je mehr eine natürliche Person den geschützten Bereich der Privatsphäre verlässt und sich in die Öffentlichkeit begibt. Ebenso unterstreicht der EGMR immer wieder "die wesentliche Rolle", die der Presse in einer demokratischen Gesellschaft zukommt. Diese dürfe zwar in Bezug auf den Schutz des guten Rufes und der Rechte anderer gewisse Grenzen nicht überschreiten; ihre Aufgabe ist es jedoch, unter Beachtung ihrer Pflichten und Verantwortlichkeiten Informationen und Ideen zu allen Fragen von allgemeinem Interesse mitzuteilen. Zu ihrer Aufgabe, Informationen und Ideen zu solchen Fragen zu verbreiten, kommt das Recht der Öffentlichkeit hinzu, diese zu empfangen. Andernfalls könnte die Presse ihre unabdingbare Rolle als "Wachhund" nicht spielen“.
Rz. 98
Dort, wo die Presse- und Meinungsfreiheit bzw. das Recht der Öffentlichkeit an Information mit den Persönlichkeitsrechten einer natürlichen Person kollidieren, ist also stets eine Abwägung des Rechts auf Achtung des Privatlebens und der vorgenannten Grundrechtspositionen erforderlich. Der EGMR fasst die für die Abwägung des Rechts auf Achtung des Privatlebens und des Rechts auf freie Meinungsäußerung einschlägigen Kriterien dabei regelmäßig wie folgt zusammen:
▪ |
Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse, |
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Bekanntheitsgrad der betroffenen Person, |
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Gegenstand der Berichterstattung, |
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Form und Auswirkungen der Veröffentlichung. |
Rz. 99
Dies berücksichtigt Art. 17 DSGVO und normiert auf datenschutzrechtlicher Ebene grundsätzlich die Möglichkeit der Überlagerung des Löschungsanspruches durch die Presse- und Meinungsfreiheit bzw. das Recht der Öffentlichkeit an Information.
Auch Art. 17 Abs. 3 lit. a) DSGVO erfordert einen Abwägungsvorgang zwischen den sich gegenüberstehenden Interessen des Verantwortlichen auf der einen und der betroffenen Person auf der anderen Seite. Dabei wird man immer dann von der "Erforderlichkeit" der weiteren Verarbeitung ausgehen, wenn sich im Rahmen der Abwägung unter Berücksichtigung der durch den EGMR und den EuGH aufgestellten Kriterien, ein Übergewicht zugunsten der Meinungs- und Pressfreiheit und/oder dem Recht der Öffentlichkeit auf Information ergibt.
Rz. 100
Ein Anwendungsfall der Norm dürfte regelmäßig im Zusammenhang mit Online-Archiven zu sehen sein. Hier hat es – freilich nicht unter primär datenschutzrechtlichen Gesichtspunkten – bereits in der Vergangenheit immer wieder rechtliche Auseinandersetzungen darüber gegeben, ob Artikel nach einer gewissen Zeit gelöscht werden müssen oder nicht. So entschied der EGMR im Rechtsstreit Wegrzynowski und Smolczewski gegen Polen, dass eine polnische Zeitung nicht verpflichtet ist, einen Artikel mit ehrverletzendem Inhalt von seiner Internetpräsenz zu löschen, selbst wenn die nationalen Gerichte im Artikel eine Verletzung der Rechte Dritter und der journalistischen Sorgfaltspflicht sehen. Zwei Anwälte hatten sich im nationalen Verfahren erfolgreich gegen einen Zeitungsartikel gewehrt, der ihnen eine vermeintliche Vorteilsnahme im Rahmen der Insolvenzverwaltung staatlicher Unternehmen vorwarf. Der Gerichtshof stellte fest, dass Art. 8 EMRK durch die fortdauernde Bereithaltung des Berichtes auf dem Online-Pressearchiv nicht verletzt ist. Eine Wahrung der Verhältnismäßigkeit in der Abwägung mit dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit verlange vielmehr, dass der Artikel nicht gänzlich aus dem Archiv gelöscht wird.
Rz. 101
Einen weiteren Anwendungsfall hat der EuGH erst kürzlich entschieden. Es galt die Frage zu beurteilen, ob natürlich...