Rz. 4

Bezüglich der visuellen Wahrnehmbarkeit ist die Frage, ob die Anstoßsituation direkt im Blickfeld des Fahrers lag oder aber ggf. über Rückspiegelsysteme hätte eingesehen werden können. Es leuchtet ein, dass schon aus diesem Blickwinkel die optische Wahrnehmbarkeit eher selten technisch beweisbar ist.

Wie schwer es aus der Fahrerposition zu beurteilen ist, wie nahe man einem neben sich parkenden Kfz ist, zeigt die Abb. 6.1a – c. Hier sicher zu beurteilen, wie nahe man dem gegnerischen Kfz ist, ist außerordentlich schwierig. Man hat letztlich nicht den Eindruck, dass zwischen der oberen und unteren Blickposition ein seitlicher Querversatz von annähernd 30 cm liegt, Abb. 6.2a – c.

 

In den letzten 2 Jahrzehnten haben die durchschnittlichen Dimensionen selbst von unteren Mittelklassewagen deutlich zugenommen, während die Parkflächen, z.B. vor Supermärkten, gleich groß blieben. Daher hat man immer einen stark eingeengten visuellen Eindruck, wenn man versucht, aus einer Parkbox rückwärts herauszusetzen.

Auch ist es so, dass man im Rahmen einer Rückwärtsfahrt nicht ständig in die gleiche Richtung schaut, sondern kontinuierlich Blickwechsel in Richtung der Zonen vornimmt, die der eigenen Karosseriekontur am nächsten sind. Darüber hinaus hat man natürlich auch das Verkehrsgeschehen in der dazu quer angelegten Fahrgasse zu beobachten, so dass entgegen der Beobachtungsmöglichkeiten eines z.B. in einer gegenüberliegenden Parklücke stehenden Zeugen (in seinem Kfz) ganz erschwerte Wahrnehmbarkeitsbedingungen vorherrschen.

 

Rz. 5

Nicht selten lassen sich technische Sachverständige auch von solchen Zeugenaussagen – zumindest indirekt – beeinflussen, wenn dort bekundet wird, dass das vom Unfallverursacher getroffene Fahrzeug erheblich hin und her gewankt hat.

So etwas ist für den Fahrzeuglenker selbst infolge durchzuführender diverser Blickwechsel weitaus schwieriger bzw. in aller Regel gar nicht wahrnehmbar, weswegen die Beobachtungen eines außenstehenden, ruhenden Zeugen für die Frage der Wahrnehmungsmöglichkeiten des Unfallverursachers überwiegend irrelevant sind.

Dass federnd aufgehängte Fahrzeugkarosserien nur allzu leicht Wankbewegungen durchführen, dürfte auch dem technischen Laien klar sein, wenn sich dieser einmal die Mühe macht, sich neben einen Pkw zu stellen und an der Dachreling zu ziehen. Man wird dabei sehr schnell merken, dass man das Fahrzeug schon mit bloßer Handkraft in Schwingungen versetzen kann, was ganz klar vor Augen führt, dass mit der Wankbewegung eines angestoßenen Fahrzeugs nicht zwingend ein hoher Kraftpegel verbunden sein muss.

 

Rz. 6

Die visuelle Wahrnehmung kann auch durch andere Einflussgrößen stark eingeschränkt werden, so z.B. durch das Einstellen der Sonnenblende, spezieller Interaktionen im Fahrzeug (Insassen, mitgeführter Hund etc.) oder aber irgendwelchen Betätigungen an ­Heizung, Lüftung, Klimaanlage. Der Scheibenwischer, der sich kontinuierlich durchs Blickfeld des Insassen bewegt, führt nicht zu einer Verbesserung der visuellen Wahrnehmbarkeit, wie natürlich auch eine Blendung durch Sonnenlicht etc.

Für die visuelle Wahrnehmbarkeit ist daher festzuhalten, dass sie von einer solchen Fülle von Variablen abhängig ist, wie aber auch von der Blicktechnik und der Blickrichtung selbst, dass man letztendlich technisch beweissicher nur höchst selten eine solche bejahen kann.

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