Rz. 13

Neben dem Erkennen und Hören einer Kollision gibt es natürlich noch die Möglichkeit des Spürens bzw. Fühlens der mit einem Anstoß einhergehenden Fahrzeugverzögerung. Diese Wahrnehmung ist kinästhetisch-vestibulärer und eher selten taktiler Natur. Fahrzeugberührungen bewirken am unfallverursachenden Kfz Geschwindigkeitsänderungen, für welche der Mensch vergleichsweise sensible Sinnesorgane besitzt. Eines ist der Vestibularapparat im Innenohr, der Linear- und Winkelbeschleunigungen registrieren kann. In Laborversuchen konnten Wahrnehmbarkeitsgrenzen von unter 0,2 m/s2 bestimmt werden. Wesentlich ist, dass die Wahrnehmungswahrscheinlichkeit eines solchen Anstoßes stark abhängig vom Zeitablauf ist. Je länger es dauert, bis ein maximaler Verzögerungswert erreicht wird, desto schwieriger wird es, eine solche zu spüren bzw. fühlen. Demgegenüber sind kurze Verzögerungsereignisse mit entsprechender Amplitude deutlich besser wahrnehmbar, was dann gemeinhin auch als Ruck bezeichnet wird.

 

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Wird der Begriff taktile Wahrnehmbarkeit verwendet, so bedeutet dies "den Tastsinn betreffend". Unsere Haut besitzt verschiedene Druckrezeptoren in unterschiedlicher Verteilungsdichte. So ist die Wahrnehmbarkeit von Druckschwankungen in der Innenhand oder an den Fingerspitzen natürlich deutlich besser als z.B. am Rücken.

Nicht wenige Sachverständige lassen sich dann zu der Aussage hinreißen, dass eine z.B. kollisionsbedingt auftretende Erschütterung im Lenkrad auch als sicher wahrgenommen zu bezeichnen ist. Dies gilt streng genommen nur dann, wenn man das Lenkrad ohne etwaige Umgreifbewegungen (im Rahmen eines Rangierprozesses) in den Händen hält, also gezielt auf die bevorstehende Kollision vorbereitet ist. Auch wird man insbesondere in der kälteren Jahreszeit häufiger beobachten können, dass Fahrzeugführer mit Handschuhen fahren, die natürlich einen Dämmstoff zwischen der Handinnenfläche und dem evtl. erschütterungsübertragenden Lenkrad bilden.

Die taktile Wahrnehmbarkeit hängt also, ebenso wie die visuelle und akustische Wahrnehmungsmöglichkeit von sehr vielen Parametern ab, die sie zu einem wenig beweissicheren Beurteilungskriterium werden lässt. So spielt die dem Pkw-eigene Unruhe (Vibration) ebenso eine große Rolle, wie die von der unfallverursachenden Person getragene Bekleidung. Es liegt auf der Hand, dass man als Unfallverursacher mit wärmender Winterbekleidung in einem hochkomfortablen Fahrzeugsitz weitaus weniger über die Hautrezeptoren registriert, als in sommerlicher Bekleidung in einer wenig gepolsterten Pkw-Sitzschale. Darüber hinaus führt der Insasse eigene Körperbewegungen durch, die eine stetige Reizung der Hautrezeptoren nach sich zieht, ebenso wie ein zu befahrender, unebener Untergrund (Kopfsteinpflaster).

 

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Weit untrüglicher ist die Wahrnehmungsform in kinästhetisch-vestibularer Hinsicht, hier spielen nur Erschütterungen und eigene Bewegungen eine Rolle, während das den Körper umgebende Dämmmaterial (Bekleidung) keinen Einfluss besitzt.

Zur Frage der Wahrnehmungsmöglichkeiten von Geschwindigkeitsänderungen leisteten seinerzeit Welther und Wolff "Pionierarbeit".[1] Letztgenannter war es, der auf den entscheidenden Einfluss zwischen der maximalen Verzögerungsamplitude und der Zeitdauer, die vergeht, bis dieser Maximalwert erreicht wird, einging.

In verschiedenen Studien wurden diese Ergebnisse auch unter Durchführung von Crashversuchen geprüft.[2] Es war festzustellen, dass in Ausnahmefällen (sehr starke Abgelenktheit) auch Fahrzeugverzögerungen oberhalb der Wahrnehmbarkeitsschwelle nach Wolff nicht sicher registriert wurden, Abb. 6.4.

Abb. 6.4

In weiterführenden eigenen Untersuchungen[3] wurde dann noch geprüft, welchen Einfluss zeitnah zum Kollisionsgeschehen eingeleitete Verzögerungen (Probandenversuche) hatten. Es konnte festgestellt werden, dass dann, wenn zeitnah zum Kollisionsgeschehen vom Versuchsfahrer aktiv die Bremse betätigt wurde, eine weitere Schwellenwertanhebung von um 20 % festgestellt werden konnte, was klar vor Augen führt, dass man bei der Beurteilung bzw. Bejahung der vestibular-kinästhetischen Wahrnehmbarkeit auch die Möglichkeit einer aktiven Bremsung des Unfallverursachers ins Kalkül zu ziehen hat. Aus diesen Untersuchungen mit vielen Hundert Einzelergebnissen entstand dann die Abb. 6.5, aus der sich nachvollziehen lässt, dass entgegen der früheren Annahme von Wolff[4] der Zusammenhang zwischen Anstiegszeit und Verzögerungsmaximalwert keine Gerade sein kann, sondern eine logarithmische Funktion.

Abb. 6.5

 

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In einer Ende 2013 hier verfassten Arbeit[5] wurde der Einfluss der Querbeschleunigung (also nicht nur der längsaxialen Verzögerung) untersucht. Es wurden dazu viele Crashversuche gefahren. Im Ergebnis konnte festgehalten werden, dass bei Fahrzeug-Fahrzeug-Kollisionen eine Querbeschleunigung in relevantem Maße erst in einem Kollisionswinkelbereich ab etwa 30° bis höchstens 50° festzustellen war. Ansonsten spielte die Querbeschleunigung eine eher ungeordnete Rolle – auch war nic...

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