Marnie Plehn, Peter Hützen
I. Beschäftigungspflicht
Rz. 19
In einem ungekündigten Arbeitsverhältnis ist der Arbeitgeber zur tatsächlichen Beschäftigung verpflichtet. Den sog. allgemeinen Beschäftigungsanspruch leitet das BAG aus dem Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers ab (BAG v. 10.11.1955, AP Nr. 2 zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht). Die Pflicht zur Beschäftigung des Arbeitnehmers besteht grds. auch im gekündigten Arbeitsverhältnis bis zum Ablauf der Kündigungsfrist (BAG v. 27.2.1985, AP Nr. 14 zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht = EzA § 611 BGB Beschäftigungspflicht Nr. 9 m. Anm. Gamillscheg). Eine einseitige Freistellung von der Arbeitsleistung ohne Vorliegen einer vertraglichen Vereinbarung ist daher i.d.R. nicht möglich (BAG v. 21.9.1993 – 9 AZR 335/91, NZA 1994, 267). Den Arbeitsvertragsparteien steht es grds. frei, ein einseitiges Recht zur Freistellung von der Erbringung der Arbeitsleistung zu vereinbaren. In vorformulierten Arbeitsverträgen muss sich eine Freistellungsklausel jedoch an den §§ 305 ff. BGB messen lassen.
Rz. 20
Außerhalb der Insolvenz kommt eine einseitige Suspendierung des Arbeitnehmers von der Arbeit daher nur in Betracht, wenn ein schützenwertes Interesse des Arbeitgebers vorliegt, das das Interesse des Arbeitnehmers an der vertragsgemäßen Beschäftigung bis zum Ende seines gekündigten oder kraft Befristung auslaufenden Arbeitsverhältnisses überwiegt (BAG v. 15.6.1972 – 2 AZR 345/71, NJW 1972, 2279 = SAE 1973, 162 m. Anm. Kreutz; BAG v. 19.8.1976, NJW 1977, 215 = SAE 1978, 66 m. Anm. Mayer-Maly; LAG Hamm v. 3.11.1993, LAGE § 611 BGB Beschäftigungspflicht Nr. 36; s. zur Frage der Abdingbarkeit des bis zum Ende der Kündigungsfrist bestehenden Beschäftigungsanspruches bereits im Arbeitsvertrag: ArbG Köln v. 9.5.1996, NZA-RR 1997, 186; ArbG Düsseldorf v. 3.6.1993, NZA 1994, 559). Ein berechtigtes Interesse des Arbeitgebers an einer Freistellung ist regelmäßig nach Ausspruch einer Kündigung gegeben (LAG München v. 7.5.2003; LAGE BGB 2002 § 307 Nr. 2; ArbG Düsseldorf v. 3.6.1993 NZA 1994, 559; a.A. ErfK/Preis, BGB, § 611a Rn 570).
II. Freistellungsanspruch
Rz. 21
Diese Grundsätze gelten auch in der Insolvenz (LAG Chemnitz v. 8.9.1999 – 4 Sa 822/98, n.v.; LAG Hamm v. 6.9.2001, LAGReport 2001, 22, 24 = ZInsO 2002, 45, 46), sind dort aber nicht ausreichend, weil für den (vorläufigen oder endgültigen) Insolvenzverwalter das Bedürfnis bestehen kann, bei reduziertem Beschäftigungsbedarf oder zur Schonung der Masse einen Teil der Arbeitnehmer bereits vor Abschluss der Interessenausgleichsverhandlungen und damit vor Ausspruch der Kündigungen freizustellen. Da die Entgeltansprüche der Arbeitnehmer unabhängig von der Freistellung gleichwohl entstehen, wird die Insolvenzmasse durch die Weiterbeschäftigung faktisch nur dann über Gebühr belastet, wenn die Beschäftigung mit einem erheblichen Betriebsmittelverbrauch und zusätzlichen Kosten verbunden ist. Diese Kosten können ggf. durch die Freistellung vermieden werden (BAG v. 15.11.2012 - 6 AZR 321/11, NZI 2013, 284). Die Entgeltansprüche der freigestellten Arbeitnehmer gelten dann zudem als drittrangige Masseforderung gem. § 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO und sind im Gegensatz zu denen der weiterbeschäftigten Arbeitnehmer (Massenverbindlichkeiten des zweiten Ranges gem. § 209 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 2 Nr. 3) nachrangig zu befriedigen (LAG Hamm v. 6.9.2001 – 4 Sa 1276/01, juris). Im Rahmen der sog. Gleichwohlgewährung (§ 157 Abs. 3 SGB III) können die freigestellten Arbeitnehmer Leistungen nach dem SGB III beantragen, die ggf. mit den Ansprüchen aus der Insolvenzmasse verrechnet werden (BeckOK SozR/Michalla-Munsche, SGB III, § 157 Rn 14).
Rz. 22
Z.T. wird aus einem Umkehrschluss aus den Regelungen der §§ 55 Abs. 2 S. 2, 209 Abs. 2 Nr. 3 InsO ein unbeschränktes "insolvenzspezifisches Freistellungsrecht" anerkannt (LAG Hamm v. 27.9.2000, ZInsO 2001, 333, 334 = ZIP 2001, 435, 436 im Anschluss an Berscheid, S. 204 Rn 610; ders., BuW 1998, 913, 918; ebenso LAG Hamm v. 12.2.2001, NZA-RR 2002, 157 = ZInsO 2001, 432; LAG Hamm v. 6.9.2001, LAGReport 2001, 22, 24 = ZInsO 2002, 45, 46; Bertram, NZI 2001, 625, 626; Buth/Hermanns/Zander, § 28 Rn 19; Hess, InVo 2001, 117, 122; ders., § 113 InsO Rn 139 ff., Rn 201; KR/Weigand, § 113 InsO Rn 9; Lauer, ZIP 2006, 983, 984; MK-InsO/Hefermehl, § 55 InsO Rn 162; Pirscher, ZInsO 2001, 698, 699; Ries, ZInsO 2007, 414, 417; Weisemann, DZWIR 2001, 151, 152; im Ergebnis ebenso LAG Nürnberg v. 30.8.2005, LAGE § 209 InsO Nr. 3 = NZA-RR 2006, 151 = ZIP 2006, 256). Dagegen spricht, dass die §§ 55 Abs. 2 S. 2, 209 Abs. 2 Nr. 3 InsO die Vergütung der Arbeitnehmer bei Inanspruchnahme der Arbeitsleistung durch den Insolvenzverwalter betrifft. Geregelt sind damit lediglich die insolvenzrechtlichen Rechtsfolgen der Freistellung (Gottwald/Haas//Bertram/Künzl, § 102 Rn 34; KPB/Moll, § 113 InsO Rn 29; Moll, EWiR 2001, 487, 488; NR/Hamacher, Vor § 113 InsO Rn 32; Oberhofer, ZInsO 2002, 21, 22; Seifert, DZWIR 2002, 407; Zwanziger, Einf. Rn 134). Umgekehrt besteht grundsätzlich keine insolvenzrechtliche Pflicht zur Freistellung. E...