Rz. 21

Diese Grundsätze gelten auch in der Insolvenz (LAG Chemnitz v. 8.9.1999 – 4 Sa 822/98, n.v.; LAG Hamm v. 6.9.2001, LAGReport 2001, 22, 24 = ZInsO 2002, 45, 46), sind dort aber nicht ausreichend, weil für den (vorläufigen oder endgültigen) Insolvenzverwalter das Bedürfnis bestehen kann, bei reduziertem Beschäftigungsbedarf oder zur Schonung der Masse einen Teil der Arbeitnehmer bereits vor Abschluss der Interessenausgleichsverhandlungen und damit vor Ausspruch der Kündigungen freizustellen. Da die Entgeltansprüche der Arbeitnehmer unabhängig von der Freistellung gleichwohl entstehen, wird die Insolvenzmasse durch die Weiterbeschäftigung faktisch nur dann über Gebühr belastet, wenn die Beschäftigung mit einem erheblichen Betriebsmittelverbrauch und zusätzlichen Kosten verbunden ist. Diese Kosten können ggf. durch die Freistellung vermieden werden (BAG v. 15.11.2012 - 6 AZR 321/11, NZI 2013, 284). Die Entgeltansprüche der freigestellten Arbeitnehmer gelten dann zudem als drittrangige Masseforderung gem. § 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO und sind im Gegensatz zu denen der weiterbeschäftigten Arbeitnehmer (Massenverbindlichkeiten des zweiten Ranges gem. § 209 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 2 Nr. 3) nachrangig zu befriedigen (LAG Hamm v. 6.9.2001 – 4 Sa 1276/01, juris). Im Rahmen der sog. Gleichwohlgewährung (§ 157 Abs. 3 SGB III) können die freigestellten Arbeitnehmer Leistungen nach dem SGB III beantragen, die ggf. mit den Ansprüchen aus der Insolvenzmasse verrechnet werden (BeckOK SozR/Michalla-Munsche, SGB III, § 157 Rn 14).

 

Rz. 22

Z.T. wird aus einem Umkehrschluss aus den Regelungen der §§ 55 Abs. 2 S. 2, 209 Abs. 2 Nr. 3 InsO ein unbeschränktes "insolvenzspezifisches Freistellungsrecht" anerkannt (LAG Hamm v. 27.9.2000, ZInsO 2001, 333, 334 = ZIP 2001, 435, 436 im Anschluss an Berscheid, S. 204 Rn 610; ders., BuW 1998, 913, 918; ebenso LAG Hamm v. 12.2.2001, NZA-RR 2002, 157 = ZInsO 2001, 432; LAG Hamm v. 6.9.2001, LAGReport 2001, 22, 24 = ZInsO 2002, 45, 46; Bertram, NZI 2001, 625, 626; Buth/Hermanns/Zander, § 28 Rn 19; Hess, InVo 2001, 117, 122; ders., § 113 InsO Rn 139 ff., Rn 201; KR/Weigand, § 113 InsO Rn 9; Lauer, ZIP 2006, 983, 984; MK-InsO/Hefermehl, § 55 InsO Rn 162; Pirscher, ZInsO 2001, 698, 699; Ries, ZInsO 2007, 414, 417; Weisemann, DZWIR 2001, 151, 152; im Ergebnis ebenso LAG Nürnberg v. 30.8.2005, LAGE § 209 InsO Nr. 3 = NZA-RR 2006, 151 = ZIP 2006, 256). Dagegen spricht, dass die §§ 55 Abs. 2 S. 2, 209 Abs. 2 Nr. 3 InsO die Vergütung der Arbeitnehmer bei Inanspruchnahme der Arbeitsleistung durch den Insolvenzverwalter betrifft. Geregelt sind damit lediglich die insolvenzrechtlichen Rechtsfolgen der Freistellung (Gottwald/Haas//Bertram/Künzl, § 102 Rn 34; KPB/Moll, § 113 InsO Rn 29; Moll, EWiR 2001, 487, 488; NR/Hamacher, Vor § 113 InsO Rn 32; Oberhofer, ZInsO 2002, 21, 22; Seifert, DZWIR 2002, 407; Zwanziger, Einf. Rn 134). Umgekehrt besteht grundsätzlich keine insolvenzrechtliche Pflicht zur Freistellung. Es besteht keine insolvenzspezifische Pflicht des Insolvenzverwalters, Arbeitnehmer zu einem bestimmten Zeitpunkt von der Arbeitspflicht freizustellen. Etwas anders gilt allenfalls dann, wenn durch die Beschäftigung der Arbeitnehmer keinerlei Wertschöpfung zugunsten der Insolvenzmasse eintritt, die Beschäftigung aber zu einer erheblichen Minderung der Masse führt und eine künftige Wertschöpfung auch nicht zu erwarten ist (BAG v. 15.11.2012 - 6 AZR 321/11, NZI 2013, 284).

 

Rz. 23

Der (vorläufige/endgültige) Insolvenzverwalter muss – wie außerhalb der Insolvenz der Arbeitgeber – bei seiner Freistellungsentscheidung die Grenzen billigen Ermessens gem. § 315 Abs. 1 und 3 BGB wahren (Uhlenbruck/Zobel, InsO § 22 Rn 96; Gottwald/Haas/Bertram/Künzl, § 102 Rn 35). Dabei sind insolvenzspezifische Besonderheiten, insb. die Bindung des (vorläufigen/endgültigen) Insolvenzverwalters an die in § 1 InsO formulierten Ziele des Insolvenzverfahrens zu berücksichtigen. Bei der Ausübung des billigen Ermessens können auch soziale Gesichtspunkte wie Alter, Betriebszugehörigkeit, Familienstand und finanzielle Interessen eine Rolle spielen. In die nach billigem Ermessen vorzunehmende Abwägung einzubeziehen sind einerseits insolvenzspezifische und andererseits betriebliche und soziale Gesichtspunkte, die gegeneinander abzuwägen sind (LAG Hamm v. 27.9.2000, DZWIR 2001, 148, 150 = InVo 2001, 97, 99 = KTS 2001, 194, 196 = MDR 2001, 472, 473 = NZA-RR 2001, 654, 655 = NZI 2001, 499, 501 = ZInsO 2001, 333, 334 = ZIP 2001, 435, 437; ebenso LAG Hamm v. 6.9.2001, LAGReport 2001, 22, 25 = ZInsO 2002, 45, 47; zust. Bertram, NZI 2001, 625, 627).

 

Rz. 24

Zu der Freistellung eines Arbeitnehmers ist der Betriebsrat weder nach § 102 BetrVG zu hören (BAG v. 22.1.1998, ZAP ERW 1998, 157 m. Anm. Berscheid = ZInsO 1998, 190; BAG v. 22.1.1998 – 2 AZR 267/97, KTS 1998, 499 = NJ 1998, 556), noch bedarf die Freistellung nach §§ 99 Abs. 1, 95 Abs. 3 S. 1 BetrVG der Zustimmung des Betriebsrats (BAG v. 28.3.2000, BB 2000, 2414 [BAG 28.3.2000 – 1 ABR 17/99...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge