Marnie Plehn, Peter Hützen
Rz. 36
Ansprüche der Arbeitnehmer, die aus der Zeit nach Verfahrenseröffnung resultieren, sind gem. § 108 Abs. 2 i.Vm. § 55 Abs. 1 Nr. 2, 2. Alt. InsO Masseverbindlichkeiten. Voraussetzung für die Einordnung als Masseschuld ist allerdings, dass das Arbeitsverhältnis vom Insolvenzverwalter nach Eröffnung des Verfahrens tatsächlich weitergeführt wird; der Arbeitnehmer also seine Arbeitsleistung weiterhin erbringt (Erfüllung zur Insolvenzmasse). Dementsprechend müssen die Gehaltsansprüche nicht zur Insolvenztabelle angemeldet werden (Arens/Brand, § 4 Rn 1). Eine dennoch erfolgende Anmeldung zur Insolvenztabelle ist unschädlich, wahrt aber eine tarifliche Ausschlussfrist, die schriftliche Geltendmachung vorsieht (BAG v. 15.2.2005, ZInsO 2006, 112 = BB 2006, 670). Für Sondervergütungen, insb. Einmalzahlungen und erfolgsabhängige Vergütungen kommt es für die Behandlung als Masseverbindlichkeit darauf an, auf welchen Zeitraum sie bezogen und wann sie entstanden sind (BAG v. 19.10.2004 – 9 AZR 647/03, ZIP 2005, 457; Arens/Brand, § 4 Rn 12).
Rz. 37
Für die Einordnung von Abfindungen als Insolvenz- bzw. Masseforderung ist zu differenzieren. Entscheidend für die Einordnung sind der Zeitpunkt des Entstehens des Anspruchs sowie die Rechtsgrundlage der Abfindung (FK/Mues, Anhang zu § 113 InsO Rn 237). Vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens einzelvertraglich vereinbarte Abfindungszahlungen, die infolge einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses vor Insolvenzeröffnung fällig werden, sind Insolvenzforderungen gem. § 38 InsO. Dies gilt auch dann, wenn das Arbeitsverhältnis vor Verfahrenseröffnung gekündigt wird, aber erst nach Verfahrenseröffnung endet (FK/Mues, Anhang zu § 113 InsO Rn 261). Wird das Arbeitsverhältnis jedoch erst nach Verfahrenseröffnung vom Insolvenzverwalter gekündigt, stellt der vertraglich vereinbarte Abfindungsanspruch eine Masseverbindlichkeit i.S.d. § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO dar (KR/Spilger, § 1a KSchG Rn 103).
Rz. 38
Bei Abfindungen aus Sozialplänen finden die §§ 123, 124 InsO Anwendung. § 123 InsO gilt für nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens aufgestellte Sozialpläne. Für sog. insolvenznahe Sozialpläne, das sind innerhalb von drei Monaten vor Antragstellung auf Verfahrenseröffnung aufgestellte Sozialpläne, sieht § 124 InsO eine Widerrufsmöglichkeit sowohl für den Insolvenzverwalter als auch für den Betriebsrat vor. Ansprüche auf Nachteilsausgleich nach § 113 Abs. 3 BetrVG sind dann Masseverbindlichkeit, wenn die Betriebsstilllegung oder Teilstilllegung vom Verwalter durchgeführt wird, ohne dass er das Verfahren nach § 111 BetrVG versucht hat (BAG v. 9.7.1985, NZA 1986, 100 = ZIP 1986, 323). Wird die Betriebsänderung vor Verfahrenseröffnung ohne den Versuch eines Interessenausgleichs begonnen, handelt es sich selbst dann um einfache Insolvenzforderungen, wenn die Kündigungen in Absprache und mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters erfolgt sind (BAG v. 4.12.2002, NZA 2003, 666; FK/Mues, Anhang zu § 113 InsO Rn 252). Tarifvertragliche Abfindungsansprüche sind in der Insolvenz regelmäßig als einfache Insolvenzforderungen zu behandeln, da auf diese Ansprüche bereits aufschiebend bedingt durch die Kündigung mit dem Tarifvertrag und nicht erst durch den Ausspruch der Kündigung oder das Ausscheiden des Arbeitnehmers nach Insolvenzeröffnung entstehen (BAG v. 27.4.2006, NZA 2006, 1282 = ZInsO 2007, 835).
Rz. 39
Für Ansprüche auf Urlaubsentgelt und Urlaubsgeld gilt in der Insolvenz Folgendes: Endet das Arbeitsverhältnis nach Verfahrenseröffnung, sind Urlaubsansprüche einschließlich des Urlaubsentgeltes Masseverbindlichkeiten gem. §§ 108, 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO (vgl. BAG v. 25.3.2003, NZA 2004, 43 = ZInsO 2004, 220 = ZIP 2003, 1802; BAG v. 15.2.2005, NZA 2005, 1124 = ZInsO 2006, 670; HaKo/Lüdtke, § 38 InsO Rn 40; NR/Andres, § 55 InsO Rn 106; Zwanziger, § 108 InsO Rn 38). Das gilt auch für tarifliche Urlaubsgeldansprüche, soweit sie vom Bestand des Urlaubsanspruchs abhängig sind (BAG v. 15.2.2005, ZInsO 12006, 112; Arens/Brand § 4Rn 18). Bei einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses nach Verfahrenseröffnung noch offene Urlaubsansprüche sind gem. § 7 Abs. 4 BUrlG abzugelten. Urlaubsabgeltungsansprüche sind in voller Höhe als Masseverbindlichkeiten zu behandeln, wenn die Arbeitsleistung eines Arbeitnehmers zum Zeitpunkt der Beendigung noch in Anspruch genommen wurde (BAG v. 25.11.2021, NJW 2022, 716). Nach Auffassung des BAG hat der Insolvenzverwalter alle Verpflichtungen aus dem Arbeitsverhältnis als "Gesamtpaket" als Masseverbindlichkeit zu erfüllen, wenn er sich für die Inanspruchnahme der Arbeitskraft eines Arbeitnehmers entscheidet.
Rz. 40
Urlaubsabgeltungsansprüche aus Arbeitsverhältnissen, die bereits vor dem Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens beendet wurden, stellen Insolvenzforderungen dar, die zur Tabelle anzumelden sind (vgl. BAG v. 25.3.2003, NZA 2004, 43 = ZInsO 2004, 220; BAG v. 15.2.2005, NZA 2005, 1124 = ZInsO 2006, 670, BAG v. 10.9.2020 – 6 AZR 94/19, NZA 2021, 129).