Marnie Plehn, Peter Hützen
A. Einleitung
Rz. 1
Die Ansprüche von Arbeitnehmern in der Insolvenz des Arbeitgebers unterscheiden sich größtenteils von den Ansprüchen der sonstigen Gläubiger des Insolvenzschuldners. Auch wenn die Privilegierungen für rückständige Lohnforderungen durch die §§ 59, 61 KO mit der InsO abgeschafft wurden, bleiben Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis ggü. anderen Gläubigern zumindest teilweise bevorrechtigt (Gottwald/Haas/Bertram/Künzl, § 105 Rn 1). Abgesehen von der sozialversicherungsrechtlichen Absicherung von Entgeltansprüchen der Arbeitnehmer über das Insolvenzgeld (§§ 165 ff. SGB III), sind Anwartschaften und Versorgungsansprüche auf betriebliche Altersversorgung nach und im Umfang von § 7 BetrAVG insolvenzgeschützt. I.Ü. kommt es für eine Privilegierung von Arbeitnehmerforderungen darauf an, ob die Ansprüche vor oder nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden sind.
B. Arbeitnehmerforderungen für die Zeit vor Insolvenzeröffnung
Rz. 2
Entgeltansprüche der Arbeitnehmer für die Zeit vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens sind regelmäßig einfache Insolvenzforderungen (§ 38 InsO). Das stellt § 108 Abs. 3 InsO ausdrücklich klar. Eine Privilegierung rückständiger Vergütungsansprüche, wie sie die KO vorsah (§§ 59 Abs. 1, 61 Abs. 1 KO), gibt es in der InsO grds. nicht mehr. Lediglich die von einem vorläufigen Insolvenzverwalter mit Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis (§ 22 Abs. 1 InsO i.V.m. § 21 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 InsO) tatsächlich beschäftigten Arbeitnehmer können ihre Vergütungsansprüche als Masseforderungen geltend machen (§ 55 Abs. 2 InsO) (Gottwald/Haas/Bertram/Künzl, § 105 Rn 3; § 108 Rn 1). Dies gilt auch für Urlaubsabgeltungsansprüche (BAG v. 25.11.2021, NJW 2022, 716). I.Ü. können für vor dem Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung geleistete, aber nicht vergütete Arbeit Insolvenzgeldansprüche gegen die Bundesagentur für Arbeit (BA) bestehen (siehe Rdn 5 ff.).
Rz. 3
Für die Einordnung, ob der Vergütungsanspruch ein Anspruch vor oder nach Insolvenzeröffnung ist, kommt es nicht auf die Fälligkeit, sondern den Zeitpunkt des Entstehens der Forderung an (Lakies, NZA 2001, 521). Bei Gratifikationen (z.B. Treueprämien usw.) ist dementsprechend der Stichtag oder Anlass maßgeblich, zu dem die Gratifikation gewöhnlich gezahlt wird; dasselbe gilt für Abfindungen sowie Ansprüche auf Nachteilsausgleich gem. § 113 BetrVG (Lakies, NZA 2001, 521, 522).
Rz. 4
Der Arbeitnehmer muss seine Ansprüche als Bruttoforderung gem. § 174 Abs. 1 InsO selbst beim Insolvenzverwalter zur Insolvenztabelle anmelden und gem. § 87 InsO i.R.d. Insolvenzverfahrens verfolgen. Ausgenommen hiervon sind Ansprüche auf Insolvenzgeld, die auf die BA übergegangen sind. Diese betreffen solche Entgeltansprüche, die drei Monate vor Insolvenzeröffnung entstanden sind (Gottwald/Haas/Bertram/Künzl, § 108 Rn 3).
C. Insolvenzgeld
I. Gesetzliche Grundlagen
Rz. 5
Die gesetzlichen Grundlagen des Insolvenzgeldanspruchs finden sich sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene.
1. Europarechtliche Vorgaben
Rz. 6
Europarechtliche Vorgaben für den Anspruch und Bezug von Insolvenzgeld ergeben sich aus der Richtlinie 2008/94/EG (im Folgenden: Arbeitnehmerschutz-RL), die den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers regelt (vgl. noch zur Vorgängerrichtlinie 80/987/EWG bzw. die diese ändernde Richtlinie 2002/74/EG:; Gagel/Banafsche, § 183 SGB III Rn 4). Hingegen enthält die EuInsVO keine – insb. weder in Art. 4 noch in Art. 10 EuInsVO – Regelungen betreffend den Anspruch auf Insolvenzgeld (MK-InsO/Reinhart, EuInsVO, Art. 10 Rn 11; Göpfert/Müller, NZA 2009, 1057, 1062). Die in der EuInsVO zu findenden Sonderanknüpfungen erfassen nicht den (sozialversicherungsrechtlichen) Anspruch auf Insolvenzgeld (MK-InsO/Reinhart, EuInsVO, Art. 10 Rn 11). Dieser unterfällt vielmehr exklusiv dem Anwendungsbereich der Arbeitnehmerschutz-RL.
Rz. 7
Aus Art. 3 Abs. 1 Arbeitnehmerschutz-RL folgt für die Mitgliedstaaten der EU die Pflicht zur Schaffung von sog. Garantieeinrichtungen, welche die Befriedigung nicht erfüllter Ansprüche von Arbeitnehmern aus Arbeitsverträgen oder Arbeitsverhältnissen ggü. ihren zahlungsunfähigen Arbeitgebern sicherstellen. Die Regelung des Art. 4 Abs. 2 S. 2 der Arbeitnehmerschutz-RL bestimmt grds. einen dreimonatigen Mindestzeitraum für die Zahlungspflicht der Garantieeinrichtungen. Nach Art. 3 Abs. 2 Arbeitnehmerschutz-RL kann der Zeitraum für die Zahlung unerfüllter Ansprüche auf Arbeitsentgelt vor/oder nach einem von den Mitgliedstaaten festgelegten Zeitpunkt (insoweit wird regelmäßig eine prozessuale bzw. verfahrensrechtliche Anknüpfung gewählt) liegen.
Rz. 8
Wann ein die Leistung der Garantieeinrichtung auslösendes Ereignis vorliegt, regelt Art. 2 Abs. 1 Arbeitnehmerschutz-RL. Danach gilt ein Arbeitgeber i.S.d. Richtlinie als zahlungsunfähig, wenn nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaates auf einen entsprechenden Antrag hin die Eröffnung eines Gesamt(vollstreckungs)verfahrens beschlossen und ein Verwalter bestellt worden ist oder aber durch die zuständige Behörde festgestellt wird, dass das Unternehmen oder der Betrieb des Arbeitgebers endgültig stillgelegt worden ist un...