1. Typische Sachverhalte
Rz. 48
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Ein italienischer Staatsangehöriger lebt seit kurzem in Deutschland, arbeitet in einem Minijob und möchte mit seiner Familie in Deutschland bleiben. |
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Eine französische Staatsangehörige hat bis zuletzt in einer Buchhandlung gearbeitet; nun wurde ihr gekündigt, sie möchte aber weiterhin in Deutschland bleiben und sich eine neue Stelle suchen. |
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Ein bulgarischer Mandant ist erwerbslos und mit einer Österreicherin verheiratet, die zunächst in einem Café in Berlin arbeitet und später schwer erkrankt; die beiden wollen gerne gemeinsam in Berlin bleiben. |
2. Rechtliche Grundlagen
Rz. 49
Staatsangehörige aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Union und des Europäischen Wirtschaftsraums sowie ihre Familienangehörigen unterliegen einem privilegierten Sonderregime. Grundlage sind das unionsrechtliche Freizügigkeitsrecht nach Art. 21 Abs. 1 AEUV sowie die spezifischen Freizügigkeitsrechte für Arbeitnehmer nach Art. 45 ff. AEUV, die Niederlassungsfreiheit gem. Art. 49 ff. AEUV und die Dienstleistungsfreiheit gem. Art. 56 ff. AEUV. Als sekundärrechtliche Konkretisierungen des Unionsrechts sind insbesondere die Verordnung über die Freizügigkeit für Arbeitnehmer (VO (EU) Nr. 492/2011) und die Freizügigkeitsrichtlinie (RL 2004/38/EG) von Bedeutung.
Rz. 50
Das unionsrechtliche Freizügigkeitsrecht wurde durch das Freizügigkeitsgesetz/EU in das deutsche Recht umgesetzt. Das Freizügigkeitsgesetz/EU regelt gem. § 1 die Einreise und den Aufenthalt von Unionsbürgern und Staatsangehörigen der EWR-Staaten sowie von deren Familienangehörigen und nahestehenden Personen und schließlich auch von Familienangehörigen und nahestehenden Personen von Deutschen, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben. Das Aufenthaltsgesetz ist gem. § 11 FreizügigG/EU nur ergänzend heranzuziehen.
Rz. 51
Wer freizügigkeitsberechtigt ist, wird in § 2 Abs. 2 FreizügigG/EU aufgeführt. Arbeitnehmer in diesem Sinne sind Personen, die eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausüben (Art. 1 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011). Dies setzt ein Weisungsverhältnis zum Arbeitgeber voraus. Essenziell ist an dieser Stelle, dass sich auch diejenigen auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen können, die eine nur geringfügige Beschäftigung ausüben, wobei eine Wochenarbeitszeit von zwölf Stunden als ausreichend erachtet wird – wenngleich die Personen zugleich ergänzend Sozialleistungen in Anspruch nehmen (vgl. § 6 FreizügigG/EU). Ebenfalls freizügigkeitsberechtigt können arbeitssuchende Personen sein, wenn die Arbeitssuche ernsthaft erfolgt, wobei das Einreise- und Aufenthaltsrecht in diesen Fällen auf ein halbes Jahr beschränkt ist (§ 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügigG/EU). Die Niederlassungsfreiheit gem. § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügigG/EU verlangt eine wirtschaftliche Tätigkeit, die der Gewinnerzielung dient und auf unbestimmte Zeit ausgerichtet ist.
Rz. 52
Demgegenüber genießen diejenigen Unionsbürger, die nicht erwerbstätig sind, nur dann ein Freizügigkeitsrecht gem. § 4 FreizügigG/EU, wenn sie über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen. Im Gegensatz zum starren Regime des Aufenthaltsgesetzes (§ 2 Abs. 3 AufenthG) dürfen die Mitgliedstaaten hier keinen festen Betrag festlegen, sondern es ist jeweils eine Einzelfallbetrachtung unter Berücksichtigung der persönlichen Situation der betreffenden Person vorzunehmen (Art. 8 Abs. 4 S. 2 RL 2004/38/EG).
Rz. 53
Auf das Freizügigkeitsrecht können sich auch Familienangehörige der freizügigkeitsberechtigten Person berufen – und zwar sowohl dann, wenn sie selbst Unionsbürger sind, als auch dann, wenn sie die Staatsangehörigkeit eines Drittstaates innehaben. Voraussetzung ist gem. § 3 Abs. 1 S. 1 FreizügigG/EU, dass sie die freizügigkeitsberechtigte Person begleiten oder ihr nachziehen. Der Begriff des Familienangehörigen ist insofern weiter als der Schutzumfang des allgemeinen Aufenthaltsrechts nach den §§ 27 bis 36 AufenthG. In den Genuss des Freizügigkeitsrechts kommen demnach grundsätzlich gem. § 1 Abs. 2 Nr. 3 FreizügigG/EU der Ehegatte, der Lebenspartner, die Verwandten in gerader absteigender Linie der Person oder des Ehegatten oder des Lebenspartners, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder denen von diesen Unterhalt gewährt wird, und die Verwandten in gerader aufsteigender Linie der Person oder des Ehegatten oder des Lebenspartners, denen von diesen Unterhalt gewährt wird. Gem. § 3a FreizügigG/EU sind daneben unter bestimmten Umständen nunmehr auch nahestehende Personen vom Freizügigkeitsrecht umfasst, wozu entferntere Verwandte, minderjährige Kinder in einem Vormundschafts- oder Pflegekindverhältnis und unverheiratete Lebensgefährten zählen (§ 1 Abs. 2 Nr. 4 FreizügigG/EU).
Rz. 54
Im Gegensatz zum Adressatenkreis des Aufenthaltsgesetzes benötigen freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger für die Einreise und den insofern rechtmäßigen Aufenthalt kein Visum und keinen Aufenthaltstitel. Allein nach § 5 Abs. 2 S. 2 FreizügigG/EU kann die jeweilige Ausländerbehörde am Aufenthaltsort...