Klaus von Brocke, Dr. Stefan Müller
a) Überblick
Rz. 13
Ein Eingriff in den Schutzbereich einer Grundfreiheit bedeutet nicht automatisch einen Verstoß gegen den AEU-Vertrag. Ein Verstoß ist erst anzunehmen, wenn keine Rechtfertigungsgründe dafür gegeben sind.
Rz. 14
Bestimmte Grundfreiheiten enthalten spezielle Eingriffsvorbehalte. So kann nach Art. 52 Abs. 1 AEUV die Beeinträchtigung der Niederlassungsfreiheit aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sein. Für die Kapitalverkehrsfreiheit enthält Art. 65 Abs. 1 lit. a, b AEUV Rechtfertigungsgründe, nach denen beispielsweise Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Ansässigkeitsort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandelt werden dürfen, sofern darin keine willkürliche Diskriminierung oder eine verschleierte Beschränkung des Kapitalverkehrs zu sehen ist (Art. 65 Abs. 3 AEUV).
Rz. 15
Speziell im Verhältnis zu Drittstaaten enthält die Kapitalverkehrsfreiheit zudem in Art. 64 AEUV einen weiteren Rechtfertigungsgrund, wonach Beschränkungen des Kapitalverkehrs mit dritten Ländern im Zusammenhang mit Direktinvestitionen zulässig sind, die am 31.12.1993 bereits "bestanden" haben (sog. Stillhalteklausel).
b) Allgemeine Rechtfertigungsgründe
Rz. 16
Neben den speziellen Rechtfertigungsgründen gibt es allgemeine Rechtfertigungsgründe, die der EuGH in seiner Rechtsprechung "aus den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses" entwickelt hat. Für das Steuerrecht hat der EuGH die nachfolgenden Rechtfertigungsgründe dahingehend untersucht, ob sie als zwingende Gründe des Allgemeininteresses zur Rechtfertigung der Beschränkung von Grundfreiheiten in Betracht kommen.
aa) Bekämpfung der Steuerflucht
Rz. 17
Die Bekämpfung der Steuerflucht zählt zu den legitimen und vom EuGH bislang nicht grundsätzlich abgelehnten Rechtfertigungsgründen. Allerdings werden für eine Anerkennung strenge Maßstäbe angesetzt. Das heißt, ein pauschaler Vortrag diesbezüglich wird vom EuGH nicht berücksichtigt. Dogmatisch verbunden sind damit die Rechtfertigungsgründe entsprechend der bereits in der Rechtssache Marks & Spencer zur Verlustverrechnung im Konzern aufgestellten Grundsätze der Wahrung der Aufteilung der Besteuerungshoheit zwischen den Mitgliedstaaten und der Vermeidung der doppelten Verlustberücksichtigung.
bb) Kohärenz
Rz. 18
Ebenfalls anerkannt ist der Rechtfertigungsgrund der Kohärenz. Aufgrund Kohärenz ist ein Eingriff gerechtfertigt, wenn Regelungen des nationalen Steuerrechts so miteinander verbunden sind, dass bei dem betroffenen Steuerpflichtigen zwischen dem steuerlichen Nachteil und einer diesen kompensierenden steuerlichen Begünstigung ein unmittelbarer, funktionaler Sachzusammenhang besteht. Auch der Rechtfertigungsgrund der Kohärenz ist in den wenigsten Fällen durch den EuGH anerkannt worden, da zwischen den relevanten Normen nicht nur eine unmittelbare, sachliche und inhaltliche Verbindung bestehen muss. Die Vor- und Nachteile müssen zudem bei demselben Steuerpflichtigen eintreten.
cc) Steuermindereinnahmen
Rz. 19
Der EuGH hat diesen, von den Mitgliedstaaten immer wieder vorgebrachten Grund, eine Regelung sei zur Erhaltung des Steueraufkommens notwendig, bislang nicht als Rechtfertigungsgrund für eine Beschränkung der Grundfreiheiten ausreichen lassen.
dd) Wirksamkeit steuerlicher Kontrollen
Rz. 20
Die Wirksamkeit steuerlicher Kontrollen ist als ein zwingender Grund des Allgemeininteresses und damit als Rechtfertigungsgrund anerkannt. Allerdings ist im jeweils konkreten Fall zu prüfen, ob nicht der in der Amtshilfe-Richtlinie vorgesehene Informationsaustausch zwischen den nationalen Steuerbehörden ausreicht.