Klaus von Brocke, Dr. Stefan Müller
Rz. 243
Jenseits der Regelung des § 14 Abs. 1 Nr. 5 KStG stellt sich die Frage, ob bei einer Beteiligung an einer ausländischen Tochtergesellschaft eine Ergebniszurechnung auf Grundlage der Niederlassungsfreiheit nicht auch dann erfolgen muss, wenn die Voraussetzungen einer Organschaft mit der EU-/EWR-ausländischen Tochtergesellschaft (Rechtsform, finanzielle Eingliederung, Ergebnisabführungsvertrag) dem Grunde nach vorliegen.
Rz. 244
Am 13.12.2005 hat der EuGH in der Rechtssache Marks & Spencer entschieden, dass die Verrechnung von Verlusten einer ausländischen Tochtergesellschaft mit Gewinnen der inländischen Muttergesellschaft im Rahmen des Konzernabzugs (group relief) nach britischem Recht zulässig ist, sofern es sich um "finale" Verluste handelt. "Finale" Verluste liegen vor, wenn diese von der ausländischen Tochtergesellschaft in deren Mitgliedstaat nicht mehr berücksichtigt werden können. Das Urteil ist aufgrund deren Vergleichbarkeit mit dem britischen Group Relief grundsätzlich auch auf die deutsche Organschaft übertragbar. Demnach sind die Beschränkung auf inländische Kapitalgesellschaften als mögliche Organgesellschaften und der doppelte Inlandsbezug als Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit bzw. in Drittstaatenfällen gegen die Kapitalverkehrsfreiheit zu werten.
Rz. 245
Dass eine grenzüberschreitende Verlustberücksichtigung jedoch nur in einem eng begrenzten Rahmen europarechtlich gefordert werden kann, nämlich dann, wenn es keine konkreten Möglichkeiten der Verlustberücksichtigung im Quellenstaat mehr gibt, wurde vom EuGH durch sein Urteil in der Rechtssache X-Holding BV nochmals klargestellt. Demnach ist eine Ungleichbehandlung bei der Verrechnung laufender Verluste je nach Sitz der Tochtergesellschaft gerechtfertigt. Als Rechtfertigungsgründe für die Zulässigkeit der damit verbundenen Beschränkung der Niederlassungsfreiheit führt der EuGH in erster Linie das Interesse der Allgemeinheit an der Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse der Mitgliedstaaten sowie die Gefahr der Steuerumgehung an. Ein Unternehmen dürfe nicht frei wählen können, in welchem Staat es seine Einkünfte der Steuer unterwerfe.
Rz. 246
Im selben Urteil vertrat der EuGH, dass es nicht von Bedeutung sei, dass Verluste einer ausländischen Betriebsstätte aufgrund einer Regelung, die eine vorläufige Verlustübertragung verbunden mit einer Nachversteuerung vorsieht, vorläufig mit den Gewinnen des Stammhauses verrechnet werden könnten. Die Situation einer Tochtergesellschaft als selbstständige juristische Person sei nicht mit der einer Betriebsstätte vergleichbar. Folglich sei es nicht erforderlich, eine ähnliche Regelung wie für Betriebsstätten vorgesehen auch für Tochtergesellschaften zu schaffen.
Rz. 247
Im Gefolge der vorgenannten Entscheidungen kam es in drei weiteren Verfahren zur grenzüberschreitenden Verlustberücksichtigung zu Schlussanträgen, in denen die Generalanwälte Kritik am vom EuGH im Urteil Marks & Spencer entwickelten Rechtsinstitut der grenzüberschreitenden Verlustberücksichtigung äußerten. Die Generalanwälte empfahlen dem EuGH jeweils, die Rechtsprechung zu den grenzüberschreitenden Verlusten zu revidieren. In der Begründung seiner Urteile in diesen Rechtssachen ist der EuGH aber nicht von seiner Position abgerückt, wonach eine Berücksichtigung finaler Verluste grundsätzlich möglich sein müsse.
Rz. 248
In seinen beiden Entscheidungen in den Rechtssachen Memira Holding AB und Holmen AB vom 19.6.2019 hat der EuGH seine Marks & Spencer-Rechtsprechung nochmals bestätigt und hat den Finalitätsbegriff gleichzeitig näher beschrieben. So soll nach dieser Rechtsprechung ein Verlust in einer ausländischen Tochtergesellschaft nur final sein, wenn alle Verlustnutzungsmöglichkeiten im Staat der Tochtergesellschaft ausgeschöpft wurden. Dies umfasst auch die Möglichkeit, durch Verkauf der Tochtergesellschaft die Verluste wirtschaftlich zu verwerten.
Rz. 249
Wie in Rdn 241 dargestellt, stellt der an sich notwendige Abschluss eines Ergebnisabführungsvertrags nach §§ 291 ff. AktG regelmäßig ein Problem dar, wenn der ausländische Staat einen solchen nicht anerkennt bzw. andere Folgen aus ihm zieht. Das Erfordernis des Abschlusses eines zivilrechtlich wirksamen Ergebnisabführungsvertrags nach dem Muster der §§ 291 ff. AktG wird deshalb nicht unionsrechtskonform sein. Vertreten wird in diesem Zusammenhang die Ansicht, dass – jedenfalls, soweit das möglich ist – ein Ergebnisabführungsvertrag nach dem deutschen Muster "gelebt" oder "ins Werk gesetzt" werden müsse, um eine grenzüberschreitende Organschaft begründen zu können.
Rz. 250
Das FG Niedersachsen wendet zwar als erstes deutsches Gericht die Grundsätze der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Marks & Spencer im Wege der normerhaltenden Reduktion auf die deutschen Regelungen zur Organschaft (§§ 14 ff. KStG) an. Anstelle des Gewinnabführungsvertrags i.S.v. § 291 Abs. 1 AktG setzt es jedoch das Erfordernis einer rechtsv...