1. Überblick

 

Rz. 23

Die wichtigsten Rechtsakte des sekundären Unionsrechts sind in Art. 288 Abs. 1 AEUV dargestellt. Hierzu zählen Richtlinien, Verordnungen, Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen. Empfehlungen und Stellungnahmen sind grundsätzlich nicht rechtsverbindlich. Beschlüsse sind zwar in allen Teilen für diejenigen verbindlich, die sie bezeichnen (Art. 288 Abs. 4 AEUV), ergehen jedoch einzelfallbezogen und sind damit vergleichbar mit einem Verwaltungsakt. Verordnungen erlangen unmittelbare Geltung, ohne dass es einen Übernahmeakt der Mitgliedstaaten erfordert. Auf dem Gebiet der direkten Steuern haben Verordnungen allerdings eine eher untergeordnete Bedeutung.[34] Eine Ausnahme davon stellt die Verordnung über die Societas Europaea (Europäische Aktiengesellschaft) dar. Mehr Bedeutung kommt im Bereich der direkten Steuern den Richtlinien zu. Diese müssen zwar nach ihrem Erlass erst in nationales Recht umgesetzt werden, bevor sie rechtsverbindlich sind. Bei nicht fristgerechter oder unvollständiger Umsetzung können sie aber auch selbst unmittelbare Wirkung entfalten, wenn die Richtlinie

hinreichend klar und präzise ist,
keinen weiteren Ermessenspielraum für den Gesetzgeber zulässt sowie
Rechte und keine Verpflichtungen für den Steuerpflichtigen begründet.[35]
 

Rz. 24

Scheidet eine unmittelbare Anwendung der Richtlinie aus, kann die fehlende oder fehlerhafte Umsetzung einer Richtlinie ggf. zu einer Haftung des verursachenden Mitgliedstaates für hierdurch entstandene Schäden führen. Seit dem sog. Francovich-Urteil[36] kennt das Unionsrecht bereits eine Haftung für Schäden, die dem Einzelnen infolge eines Verstoßes eines Mitgliedstaates gegen das Unionsrecht entstehen. In späteren Urteilen hat der EuGH die Voraussetzungen für einen Haftungsanspruch konkretisiert.[37] Danach kann eine Haftung eintreten, wenn

die Rechtsnorm, gegen die verstoßen wird, dem Einzelnen ein Recht verleiht, dessen Inhalt auf der Grundlage der Richtlinie bestimmt werden kann,
der Verstoß hinreichend qualifiziert ist,
zwischen Verstoß und Schaden ein unmittelbarer kausaler Zusammenhang besteht und
die unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinie nicht möglich ist.
 

Rz. 25

Zu den wichtigsten Richtlinien im Bereich der direkten Steuern zählen die Zins- und Lizenzgebühren-Richtlinie, die Mutter-Tochter-Richtlinie und die Fusions-Richtlinie.

[34] Sedemund, IStR 2004, 595.
[35] EuGH, Urt. v. 26.2.1986, Rs. 152/84 (Marshall), Slg. 1986, 723; EuGH, Urt. v. 22.4.1984, Rs. C-7/83 (Ospig Textiliengesellschaft KG W. Ahlers), Slg. 1984, 609.
[36] EuGH, Urt. v. 19.11.1991, Rs. C-6/90 und Rs. C-9/90 (Francovich und Bonifici), Slg. 1991, I-5357 ff.
[37] Vgl. hierzu Kellersmann/Treisch, Europäische Unternehmensbesteuerung, S. 49.

2. Mutter-Tochter-Richtlinie

a) Ziel der Mutter-Tochter-Richtlinie

 

Rz. 26

Die sog. Mutter-Tochter-Richtlinie[38] zielt auf eine Beseitigung steuerlicher Mehrfachbelastung infolge Dividendenausschüttungen einer Tochtergesellschaft an ihre in einem anderen EU-Mitgliedstaat ansässige Muttergesellschaft ab. Hintergrund für die Schaffung der Richtlinie war die Feststellung, dass die für Beziehungen zwischen Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten geltenden steuerlichen Regelungen im Allgemeinen ungünstiger waren als zwischen Gesellschaften desselben Staates. Um eine mögliche (wirtschaftliche) Doppelbesteuerung der ausgeschütteten Gewinne mit Körperschaftsteuer zu vermeiden, bestimmt Art. 4 der Richtlinie, dass der Staat der Muttergesellschaft die Gewinnausschüttungen der EU-Tochtergesellschaft von der Steuer befreit oder im Falle einer Besteuerung der Muttergesellschaft eine Steueranrechnung der von der Tochtergesellschaft für die von ihr ausgeschütteten Gewinne entrichteten Steuer gestattet. Korrespondierend verzichtet der Staat der Tochtergesellschaft auf die Erhebung von Quellensteuer auf die ausgeschütteten Gewinne (Art. 5 der Richtlinie).

 

Rz. 27

In Anbetracht des Aktionsplans der Kommission zur Verstärkung der Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung wurde von der Kommission eine Änderung der Mutter-Tochter-Richtlinie vorgeschlagen und vom Rat am 8.7.2014 angenommen. Danach sollen sog. Hybridanleihenstrukturen verhindert werden. Eine Hybridanleihenstruktur liegt vor, wenn nach dem Recht des einen Mitgliedstaates eine Kapitalzuwendung als Darlehen, nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaates diese dagegen als Eigenkapital qualifiziert wird. Steuerlich hat dies zur Folge, dass im erstgenannten Staat entsprechende Aufwendungen steuermindernd wirken, im zweitgenannten Staat eine Dividendenausschüttung wiederum steuerbefreit oder -begünstigt ist. Durch die Änderung der Mutter-Tochter-Richtlinie soll es nun den Mitgliedstaaten ermöglicht werden, die Dividendenfreistellung zu verweigern, wenn die Zahlung im Quellenstaat von der dortigen Bemessungsgrundlage abgezogen werden konnte. Eine derartig korrespondierend wirkende Regelung setzt natürlich voraus, dass sich Sitz- und Quellenstaat der Mutter-Tochter-Beziehung im Hinblick auf die Zahlungsströme und die Art ihrer...

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