Rz. 53

Nicht wenige Obergerichte gehen – in Anlehnung an entsprechend vom BVerfG formulierte Maßstäbe – in Fällen vollzogener erstinstanzlicher einstweiliger Anordnungen[129] über das Aufenthaltsbestimmungsrecht davon aus, dass die Abwägung, ob eine Abänderung der einstweiligen Anordnung noch vor der Hauptsacheentscheidung angezeigt sei, nicht an einer Sanktion des Fehlverhaltens eines Elternteils, sondern vorrangig am Kindeswohl zu orientieren sei. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens seien die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung bestehen bliebe, der Antragsteller mit seinem Antrag im Hauptsacheverfahren aber später Erfolg hätte, gegen die Nachteile abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung abgeändert würde, dem Antragsteller im Hauptsacheverfahren aber der Erfolg zu versagen wäre.[130] Daher entspreche es regelmäßig dem Wohl des Kindes nicht, eine bereits vollzogene einstweilige Anordnung über das Aufenthaltsbestimmungsrecht ohne schwerwiegende Gründe abzuändern und somit vor der Entscheidung des Familiengerichts in der Hauptsache über einen erneuten Ortswechsel zu befinden.[131] Ein mehrfacher Wechsel würde das Kindeswohl in nicht unerheblichem Maße beeinträchtigen.[132]

 

Rz. 54

Gegen die hiermit einhergehende Beschränkung des "Prüfungsprogramms" des Beschwerdeverfahrens hat das Bundesverfassungsgericht Bedenken erhoben und ausgeführt:[133]

"Zwar erscheint sehr zweifelhaft, ob die vom Oberlandesgericht als seine “ständige Rechtsprechung’ bezeichnete Übung, vollzogene amtsgerichtliche Entscheidungen zur elterlichen Sorge, die nach Anhörung der Verfahrensbeteiligten und Einschaltung der Jugendämter ergangen sind, im Beschwerdeverfahren nur abzuändern, wenn die Beschwerde konkrete Umstände aufzeigt und glaubhaft macht, aus denen sich für den verbleibenden Zeitraum bis zur Hauptsacheentscheidung eine Kindeswohlgefährdung oder die Gefahr sonstiger schwerwiegender Unzulänglichkeiten für dessen Versorgung ableiten lassen, verfassungsrechtlicher Prüfung standhält. Denn eine solche schematische (Selbst-)Begrenzung des Prüfungsmaßstabes des Beschwerdegerichts kann sich zum einen auf keine einfachrechtliche Norm des Familienverfahrensrechts stützen, zum anderen kann eine solche Handhabung zur – kindeswohlwidrigen – Folge haben, dass dem Kind in Fällen wie dem vorliegenden allein aus Gründen der vorläufigen Kontinuität die Betreuung durch den nach vorläufiger Würdigung erziehungsgeeigneteren Elternteil versagt bleibt. Dann aber wären die Umstände des Einzelfalls nicht hinreichend berücksichtigt, deren stete Maßgeblichkeit es verbietet, eine bestimmte Sorgerechtsregelung mit der Spruchpraxis eines Gerichts in vergleichbaren Fällen zu begründen."[134]

 

Rz. 55

Dem ist nachdrücklich zuzustimmen. Der inzidente Rückgriff jener Obergerichte auf die Abwägungsmaßstäbe des Bundesverfassungsgerichts ist auch deshalb unstatthaft, weil das Bundesverfassungsgericht im Zuge seiner nach § 32 Abs. 1 BVerfGG gebotenen Folgenabwägung seiner Entscheidung in aller Regel die Tatsachenfeststellungen und Tatsachenwürdigungen in den angegriffenen Entscheidungen zugrunde legt.[135] Genau dies aber ist einem Obergericht als Tatsacheninstanz verschlossen, umso mehr, wenn der Sachverhalt erstinstanzlich nicht vollständig aufgeklärt wurde.

 

Rz. 56

Ein Verzicht auf solch selbstgesetzte – und damit auch selbstbegrenzende – Maßstäbe schadet auch nicht:[136] Denn statthaft bleibt selbstredend, den im Falle einer Abänderung der familiengerichtlichen Entscheidung zu gewärtigenden mehrfachen Wechsel des Aufenthaltsortes – und damit der Hauptbezugsperson – des Kindes als gewichtigen Belang in die erforderliche Einzelfallabwägung einzustellen. Solche Berücksichtigung steht mit der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung in Einklang; denn freilich beeinträchtigen in der Regel mehrfache Wechsel des Ortes und der unmittelbaren Bezugsperson das Kindeswohl in nicht unerheblichem Maße.[137]

 

Rz. 57

Man muss daher auch bei bereits vollzogener einstweiliger Anordnung von den üblichen Maßstäben und Kriterien etwa des § 1671 Abs. 2 S. 2 BGB ausgehen und im Rahmen der dann angezeigten Gesamtabwägung aller Sorgerechtsbelange einschließlich ggf. des Aspekts eines eigenmächtigen Verbringens des Kindes[138] den Aspekt des erneuten Obhutswechsels – allerdings gewichtig und insoweit auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gestützt – berücksichtigen. Dies bedeutet, dass sich eine ggf. erkennbare bessere Sorgerechtseignung des anderen Elternteils schon vor der Hauptsacheentscheidung durchsetzen kann,[139] was zwei Vorteile hat: Der bloße Zeitablauf führt dann nicht zu einer Verstärkung der Kontinuität zugunsten des voraussichtlich weniger geeigneten Elternteils mit der Folge, dass im Falle des Wechsels in der Hauptsacheentscheidung den Kindern der Wechsel schwerer fallen kann. Zum anderen wird so der Nachteil vermieden, dass die Kinder in der Zwischenzeit vom nach vorläufiger Würdigung weniger geeigneten Elternt...

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