I. Einleitung

 

Rz. 38

Bei der Geltendmachung von Pflichtteilsansprüchen ist sorgfältig zwischen den einzelnen Pflichtteilsansprüchen und deren Berechnung zu unterscheiden. So hat der Pflichtteilsberechtigte den sog. ordentlichen Pflichtteilsanspruch, der sich aus dem zum Zeitpunkt des Erbfalls vorhandenen Nachlass berechnet. Damit der Erblasser den ordentlichen Pflichtteilsanspruch nicht durch Verfügungen zu Lebzeiten umgehen kann, steht dem Pflichtteilsberechtigten der sog. Pflichtteilsergänzungsanspruch zu, der durch Schenkungen des Erblassers zu Lebzeiten (innerhalb von 10 Jahren vor seinem Tod) ausgelöst wird.

Im Rahmen des ordentlichen Pflichtteilsanspruchs sind die Vorschriften §§ 2315, 2316 BGB über die Anrechnung und Ausgleichung von Vorempfängen zu beachten. Für den Fall, dass der Pflichtteilsberechtigte einen zu geringen Erbteil (oder Vermächtnisteil) erhalten hat, gewähren ihm die Vorschriften der §§ 23052307 BGB zusätzliche Rechte (vgl. Rdn 24 ff.).

II. Bewertung des Nachlasses

1. Allgemeines

 

Rz. 39

Grundlage für die Berechnung des Pflichtteilsanspruchs ist der sog. "Netto-Nachlass". Dies ist der Differenzwert zwischen dem Aktiv- und dem Passivbestand des Nachlasses. Für die Ermittlung des Nachlasswertes spielt daher die Bewertung der zum Nachlass gehörenden Sachen und Forderungen sowie der Nachlassverbindlichkeiten eine wichtige Rolle. Anhand des so ermittelten Nachlasswertes wird dann entsprechend der jeweiligen Pflichtteilsquote die Höhe des Pflichtteilsanspruchs berechnet.

2. Wert des Nachlasses

a) Allgemeines

 

Rz. 40

Die Feststellung des Nachlasswertes bereitet dem Anwalt in der Praxis erhebliche Schwierigkeiten. In manchen Fällen ist die exakte Bestimmung des Wertes gar nicht möglich.[44] Während das Steuerrecht durch das Bewertungsgesetz und verschiedene Verwaltungserlasse eine umfangreiche Unterstützung bietet, mangelt es im zivilrechtlichen Bereich an solchen Vorschriften.[45] Die Zentralnorm im BGB für die Wertbestimmung ist § 2311 Abs. 1 S. 1 BGB. Maßgeblich sind der Bestand und der gemeine Wert der Nachlassgegenstände im Zeitpunkt des Erbfalls. Bestimmungen des Erblassers sind insoweit unverbindlich (§ 2311 Abs. 2 S. 2 BGB).[46]

 

Rz. 41

Die Wertermittlung erfolgt nach dem Stichtagsprinzip, d.h. grundsätzlich ist der Wert zum Zeitpunkt des Erbfalls maßgebend. Nachträgliche Wertsteigerungen oder Wertminderungen müssen deshalb außer Betracht bleiben.[47]

 

Rz. 42

Der Pflichtteilsberechtigte ist wirtschaftlich so zu stellen, als sei der Nachlass beim Tod des Erblassers in Geld umgesetzt worden. Daher ist grundsätzlich auf den gemeinen Wert abzustellen, der dem Verkaufswert (Verkehrswert) entspricht. Grundsätzlich ist der Verkehrswert der einzelnen Nachlassgegenstände zu ermitteln. Dies ist bei einer Veräußerung der voraussichtlich erzielbare Preis abzüglich der beim Erben entstehenden latenten Einkommensteuer und sonstiger Veräußerungskosten[48] und unabhängig davon, ob es tatsächlich zu einer Veräußerung kommt, da der Pflichtteilsberechtigte wirtschaftlich so zu stellen ist, als sei der Nachlass beim Tod des Erblassers in Geld umgesetzt worden.[49] Eine bestimmte Methode der Wertberechnung ist im BGB nicht vorgeschrieben.[50] Sie obliegt, wie J. Mayer[51] zutreffend feststellt, dem Ermessensspielraum der Gerichte. Vorrangig gilt eine Bewertung, die sich an einen tatsächlichen Verkauf des zu bewertenden Nachlassgegenstandes anlehnen kann. § 2311 Abs. 2 S. 1 BGB bestimmt aber, dass der Wert des Nachlassgegenstandes im Zweifel zu schätzen, gegebenenfalls durch Sachverständigengutachten zu ermitteln ist.

 

Rz. 43

Die Schätzung ist nach gefestigter Rechtsprechung des BGH[52] dann nachrangig, wenn der Nachlassgegenstand alsbald nach dem Erbfall veräußert wurde.[53] Der BGH begründet dies damit, dass jede Schätzung mit einem Unsicherheitsfaktor belastet ist und es deshalb im erbrechtlichen Bewertungsrecht nicht sachgerecht ist, die "gesicherte Ebene" des tatsächlich erzielten Verkaufserlöses außer Acht zu lassen.[54] Wann eine Veräußerung zeitnah ist und somit als Bewertungsmaßstab dienen kann, liegt im richterlichen Ermessen.

 

Rz. 44

Grundstücks- und Betriebsveräußerungen von bis zu einem Jahr nach dem Erbfall werden vom BGH als zeitnah angesehen.[55] Nach Ansicht des OLG Frankfurt gilt dies auch bei einer Veräußerung innerhalb von 28 Monaten nach dem Erbfall.[56] In Ausnahmefällen, wenn die Marktverhältnisse sich nicht wesentlich verändert haben, kann auch ein Verkaufserlös, der 5 Jahre nach dem Erbfall erzielt wurde, ausschlaggebend sein.[57]

Nach BGH hat somit eine grundsätzliche Orientierung am tatsächlichen Verkaufserlös zu erfolgen, wenn nicht:[58]

seit dem Erbfall wesentliche Veränderungen der Marktverhältnisse eingetreten sind,
beim Verkauf von Grundstücken wesentliche Veränderungen der Bausubstanz dargelegt werden können, oder
außergewöhnliche Verhältnisse vorliegen, die eine Zugrundelegung des Verkaufserlöses nicht rechtfertigen.

Eine Bindung an den tatsächlich erzielten Verkaufspreis kommt allerdings dann nicht mehr in Betracht, wenn der darlegungs- und beweispflichtige Pflichtteilsbere...

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