Rz. 42
Die Beurteilung des Berufungsgerichts hielt im Ergebnis revisionsrechtlicher Nachprüfung stand. Die haftungsrechtliche Verantwortlichkeit des Beklagten war nach der Unfallschilderung des Klägers, die revisionsrechtlich als richtig zu unterstellen war, nach § 828 Abs. 2 S. 1 BGB n.F. ausgeschlossen.
Rz. 43
Da das schädigende Ereignis nach dem 31.7.2002 eingetreten war, richtete sich die Verantwortlichkeit des minderjährigen Schädigers gemäß Art. 229 § 8 Abs. 1 EGBGB nach § 828 BGB in der Fassung des 2. Gesetzes zur Änderung schadensrechtlicher Vorschriften vom 19.7.2002 (BGBl I S. 2674). Danach ist für den Schaden, den er bei einem Unfall mit einem Kraftfahrzeug einem anderen zufügt, nicht verantwortlich, wer das siebte, aber nicht das zehnte Lebensjahr vollendet hat.
Rz. 44
Die Revision ging zwar ebenfalls davon aus, dass § 828 Abs. 2 S. 1 BGB nach seinem Wortlaut im vorliegenden Fall ohne weiteres eingriff. Sie meinte jedoch, die Vorschrift finde nach ihrem Sinn und Zweck gleichwohl keine Anwendung. Dieser Auffassung konnte aus Rechtsgründen nicht gefolgt werden.
Rz. 45
Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats ist eine teleologische Reduktion des Wortlauts dieser Vorschrift nur in Fällen vorzunehmen, in denen sich keine typische Überforderungssituation des Kindes durch die spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs realisiert hat. Hiernach hat der Senat das Haftungsprivileg verneint in Fällen, in denen Kinder der privilegierten Altersgruppe mit einem Kickbord oder Fahrrad gegen ein ordnungsgemäß geparktes Kraftfahrzeug gestoßen sind und dieses beschädigt haben (vgl. Senatsurt. BGHZ 161, 180 und v. 21.12. 2004 – VI ZR 276/03, VersR 2005, 378 m.w.N.).
Rz. 46
Der Gesetzgeber hat nämlich mit der Einführung der Ausnahmevorschrift des § 828 Abs. 2 BGB dem Umstand Rechnung getragen, dass Kinder bis zur Vollendung ihres 10. Lebensjahres regelmäßig überfordert sind, die besonderen Gefahren des motorisierten Straßenverkehrs zu erkennen, insbesondere die Entfernungen und Geschwindigkeiten von anderen Verkehrsteilnehmern richtig einzuschätzen und sich den Gefahren entsprechend zu verhalten. Dabei hat er sich von der Erkenntnis leiten lassen, dass Kinder in diesem Alter wegen ihres Lauf- und Erprobungsdrangs, ihrer Impulsivität, Affektreaktionen, mangelnden Konzentrationsfähigkeit und ihres gruppendynamischen Verhaltens oft zu einem verkehrsgerechten Verhalten nicht in der Lage sind (vgl. BT-Drucks 14/7752, S. 16 f. und 26 f.). Allerdings wollte er die Deliktsfähigkeit nicht generell und nicht bei sämtlichen Verkehrsunfällen erst mit Vollendung des 10. Lebensjahres beginnen lassen. Er wollte die Heraufsetzung der Deliktsfähigkeit vielmehr auf im motorisierten Straßen- oder Bahnverkehr plötzlich eintretende Schadensereignisse begrenzen, bei denen die altersbedingten Defizite eines Kindes, wie z.B. Entfernungen und Geschwindigkeiten nicht richtig einschätzen zu können, zum Tragen kommen, weil sich das Kind durch die Schnelligkeit, die Komplexität und die Unübersichtlichkeit der Abläufe in einer besonderen Überforderungssituation befindet (vgl. BT-Drucks 14/7752, S. 26 f.).
Rz. 47
Entgegen der Auffassung der Revision konnte eine solche typische Überforderungssituation, die nach dem Willen des Gesetzgebers zu einem Haftungsausschluss führt, auch unter Zugrundelegung des vom Kläger vorgetragenen Unfallgeschehens nicht verneint werden. Denn es hatte sich auch in diesem Fall eine Gefahr verwirklicht, die daraus herrührte, dass Kinder in dem entsprechenden Alter wegen ihres Lauf- und Erprobungsdrangs und ihres gruppendynamischen Verhaltens oft zu einem verkehrsgerechten Verhalten nicht in der Lage sind. Nach dem Vorbringen des Klägers lief der Beklagte entgegen der Fahrtrichtung des herannahenden Kraftfahrzeugs auf dem Bürgersteig einer Gruppe von Kindern vorweg, die ihn anfeuerte, und schob dabei sein Fahrrad so schnell er konnte vor sich her um es dann loszulassen, damit es von alleine weiterrolle. In einer solchen Situation lässt sich die Möglichkeit nicht ausschließen, dass der Beklagte, als er das Fahrrad los ließ, die Geschwindigkeit und die Entfernung des herannahenden Fahrzeugs falsch einschätzte und deshalb nicht damit rechnete, dass das führungslose Fahrrad gerade zu dem Zeitpunkt auf die Fahrbahn geraten könnte, in dem das Fahrzeug des Klägers vorbeifuhr.
Rz. 48
Entgegen der Auffassung der Revision kam es nicht darauf an, ob sich die Überforderungssituation konkret ausgewirkt hatte oder der Beklagte lediglich nicht damit gerechnet hatte, dass das führungslose Fahrrad auch auf die Straße rollen könnte. Um eine klare Grenzlinie für die Haftung von Kindern zu ziehen, hat der Gesetzgeber diese Fallgestaltungen einheitlich in der Weise geregelt, dass er die Altersgrenze der Deliktsfähigkeit von Kindern für den Bereich des motorisierten Verkehrs generell heraufgesetzt hat (vgl. Senatsurt. v. 14.6.2005 – VI ZR 181/04, VersR 2005, 1154, 1155 und v. 17.4.2007 – VI ZR 109/06, VersR 2007, 855, 856).