I. Allgemeine Grundsätze und Besonderheiten im Recht der Handelsgeschäfte
Rz. 1
Die Frage, ob es sich bei einem Geschäft um ein Handelsgeschäft handelt, ist von Bedeutung für die Anwendbarkeit des Handelsrechts, und zwar u.a. der §§ 349, 350, 352, 353, 358, 368, 369–372 HGB und des § 95 GVG. Ferner setzt die Anwendung der besonderen Vorschriften des 4. Buchs 2. bis 6. Abschnitt HGB voraus, dass das Geschäft mindestens für eine Seite (vgl. § 345 HGB), u.U. aber auch für beide Seiten (vgl. z.B. §§ 377, 379 HGB), ein Handelsgeschäft ist. Handelsgeschäfte unterliegen, soweit das HGB nichts Abweichendes bestimmt, dem allgemeinen bürgerlichen Recht (vgl. Art. 2 Abs. 1 EGHGB).
Rz. 2
Bevor in Rdn 20 ff. auf das Handelsgeschäft und seine Besonderheiten näher eingegangen wird, sollen zunächst einige nicht explizit im HGB geregelte Grundsätze des Handelsverkehrs dargestellt werden.
1. Geschäftsverbindung
Rz. 3
Die laufende Geschäftsverbindung ist der nicht nur auf ein Einmalgeschäft angelegte rechtsgeschäftliche Kontakt zwischen zwei Kaufleuten oder Unternehmensträgern, der den einzelnen Verträgen ihre rechtliche Selbstständigkeit belässt. Die laufende Geschäftsverbindung ist weder ein bloß tatsächliches Verhältnis noch ein Vertragsverhältnis, sondern ein gesetzliches Schuldverhältnis ohne primäre Leistungspflicht, das als "geschäftlicher Kontakt" i.S.v. § 311 Abs. 2 Nr. 3 BGB verstanden werden kann. Dieses Verhältnis entfaltet besondere Schutzpflichten der Parteien nach § 241 Abs. 2 BGB füreinander und kann Grundlage einer Vertrauenshaftung sein. Die laufende Geschäftsverbindung wird rechtsgeschäftlich, d.h. entsprechend den §§ 104 ff. BGB, begründet. Die besondere Bedeutung der Geschäftsverbindung liegt in ihrer pflichtenbegründenden Funktion, die unabhängig von der Rechtsnatur und Wirksamkeit der in ihrem Rahmen geschlossenen Einzelverträge ist.
Beispiele
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Pflichten schon vor Abschluss und nach Erfüllung des Einzelvertrages, |
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Schutz auch des Geschäftsunfähigen, |
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Interessenwahrungspflicht z.B. aus Bankvertrag, die dem Typ Kaufvertrag (wie etwa beim Effekten-Propergeschäft) fremd wäre. |
Rz. 4
Die Schutzpflichtverletzung führt wie bei den Ansprüchen nach den §§ 280, 311 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2, 241 Abs. 2 BGB aus Verschulden bei Vertragsverhandlungen i.d.R. zum Anspruch auf Ersatz des negativen Interesses, ausnahmsweise zum Anspruch auf Ersatz des positiven Interesses. Die Vertrauenshaftung kann einseitig ausgeschlossen werden.
2. Geschäfte ohne Rechtsbindungswillen
Rz. 5
Im Handelsverkehr wird zwischen Geschäften ohne Rechtsbindungswillen und sog. Gefälligkeitsverhältnissen unterschieden.
Rz. 6
Geschäfte ohne Rechtsbindungswillen sind das gentlemen’s agreement, die Absichtserklärung, u.U. die Patronatserklärung, der letter of intent, das memorandum of understanding und die instruction to proceed. Solchen Geschäften kann je nach Einzelfall rechtliche Bedeutung zukommen, insb. aufgrund einer Vertrauenshaftung. Ausnahmsweise können solche Geschäfte auch Vertragscharakter haben.
Rz. 7
Gefälligkeitsverhältnisse – auch Zusagen oder Gestattungen genannt – sind keine rechtsgeschäftlichen, sondern außerrechtliche Verhältnisse. Ein Anspruch auf Erfüllung besteht nicht, doch kann eine Haftung daraus nicht nur auf die §§ 823 ff. BGB, sondern im Einzelfall auch auf Vertrauenshaftungstatbestände, v.a. auf die §§ 280, 311 Abs. 2 Nr. 3 BGB gestützt werden. Gefälligkeitsverträge sind dagegen rechtlich bindende, wenngleich aus Gefälligkeit eingegangene Vertragsverpflichtungen, z.B. nach den §§ 516, 598, 662, 690 BGB. Auch die Zusage einer Kulanzregelung kann rechtlich verbindlich sein. Im Handelsrecht spielen die echten Gefälligkeitsverhältnisse nur eine geringe Rolle, da i.d.R. eine Geschäftsverbindung i.S.d. obigen Ausführungen unter Rdn 3 vorliegt.
3. Abschlussfreiheit, Kontrahierungszwang
Rz. 8
Der Kaufmann ist wie jeder Verbraucher grds. frei, ob, mit wem und mit welchem Inhalt er Verträge schließen will (Grundsatz der Privatautonomie in Gestalt der Abschluss- und Inhaltsfreiheit). So kann z.B. der Einzelhändler einzelne Käufer nach Belieben abweisen. Der Abbruch der Vertragsverhandlung ist zulässig, auch bei Kenntnis, dass der andere Teil in Erwartung des Vertragsschlusses bereits Aufwendungen gemacht hat. Die schuldhafte Erweckung des Vertrauens auf einen sicheren Abschluss kann jedoch als Verschulden bei Vertragsverhandlungen nach den §§ 280, 311 Abs. 2 BGB einen Schadensersatzanspruch des Gegners, gerichtet auf das negative Interesse, begründen.
Rz. 9
Nur ausnahmsweise gibt es im Handelsverkehr einen Abschluss- bzw. Kontrahierungszwang:
Beispiele
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besondere gesetzliche Abschlusspflichten, z.B. nach § 5 Abs. 2 PflVG, sowie vereinzelt noch im Transportrecht, |
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das kartellrechtliche Diskriminierungsverbot nach § 20 GWB für marktbeherrschende Unternehmen, Kartelle, ... |