Dr. Maximilian Kübler-Wachendorff
Rz. 123
Die Annahme der öffentlichen Urkunde bewirkt, dass diese in einem anderen Mitgliedstaat die gleiche formelle Beweiskraft wie im Ursprungsmitgliedstaat oder die damit am ehesten vergleichbare Wirkung hat. Die formelle Beweiskraft der Urkunde richtet sich somit hinsichtlich Art und Umfang nach dem Recht des Ursprungsstaates und nicht nach der lex fori.
Rz. 124
Von der Erstreckung der formellen beweisrechtlichen Wirkung der Urkunde (das instrumentum) ist jedoch der materiell-rechtliche Inhalt der Urkunde (das negotium) zu trennen. Die Frage der Wirksamkeit des beurkundeten Rechtsgeschäfts bzw. Rechtsbeziehung (also des Inhalts der Urkunde) unterliegt dem anwendbaren materiellen Erbrecht und nicht dem Beweisrecht des Ursprungsmitgliedstaates. Eine im Ursprungsstaat beurkundete Verfügung von Todes wegen erbringt folglich nicht den Beweis, dass diese formell und materiell wirksam ist. Diese Fragen unterliegt nach Art. 59 Abs. 3 S. 1 EuErbVO vielmehr dem anwendbaren Erbrecht bzw. dem Formstatut.
Rz. 125
Unter Art. 59 Abs. 1 Uabs. 1 EuErbVO fallen demgegenüber die Art und der Umfang der formellen Beweiskraft der Urkunde. Die Art betrifft die Frage, ob die Beweiskraft der Urkunde durch einen einfachen Gegenbeweis oder Beweis des Gegenteils erschüttert werden kann und welche Beweismittel hierzu in Betracht kommen. Der Umfang regelt hingegen, worauf sich die formelle Beweiskraft bezieht, etwa: Inhalt der Erklärung, Vollständigkeit der Erklärung, Abgabe der Erklärung vor der beurkundenden Stelle, Herrühren der Urkunde von der namentlich bezeichneten Person, Identität des Erklärenden mit dem Namensträger. Für deutsche Urkunden richtet sich Art und Umfang der formellen Beweiswirkung nach den §§ 415, 417 f. ZPO.
Rz. 126
Für Urkunden aus einem anderen Mitgliedstaat bestimmen dessen Vorschriften Art und Umfang der Beweiswirkung in einem deutschen Verfahren. Dies gilt auch dann, wenn die Beweiswirkungen der Urkunde über diejenigen des annehmenden Staates hinausgehen. Sind diese Beweiswirkungen des Verfahrensrechts des Ursprungsmitgliedstaate dem Recht des annehmenden Staates unbekannt, sieht Art. 59 Abs. 1 Alt. 2 EuErbVO vor, dass die annehmende Stelle der Urkunde nach dem eigenen Verfahrensrecht eine mit der unbekannten Beweiswirkung am ehesten vergleichbare Beweiswirkung zukommen lässt.
Rz. 127
Die Erstreckung der formellen beweisrechtlichen Wirkungen nach dem Recht des Ursprungsmitgliedstaates ist jedoch dadurch begrenzt, dass diese Wirkung nicht offensichtlich dem ordre public des Annahmemitgliedstaates widersprechen darf. Ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung kommt etwa dann in Betracht, wenn das ausländische Beweisrecht die Beweiskraft der Urkunde an die Staats- oder Religionsangehörigkeit oder das Geschlecht des Verwenders anknüpft und so eine diskriminierende Wirkung entfaltet. Zudem könnte auch die Art der Beweiswirkung nach dem ausländischen Recht im Einzelfall gegen den verfahrensrechtlichen ordre public Vorbehalt verstoßen, etwa wenn nach dem ausländischen Recht der Beweis des Gegenteils unzulässig ist, obgleich das deutsche Recht diesen Beweis im Einzelfall zulassen würde.
Rz. 128
Verstößt die beweisrechtliche Wirkung offensichtlich gegen die öffentliche Ordnung des Annahmestaates, erstreckt sich die Beweiswirkung nach dem Recht des Ursprungsmitgliedstaates nicht auf den Annahmestaat, Art. 59 Abs. 1 Uabs. 1 a.E. EuErbVO. Dies heißt jedoch nicht, dass der Urkunde keinerlei Wirkungen zukommen. Denn die Vorschrift sieht auch vor, eine mit der der Beweiswirkung des Rechts des Ursprungsmitgliedstaates am ehesten vergleichbare Wirkung anzunehmen, sodass die Beweiswirkung auf ein mit dem deutschen ordre public vereinbares Maß reduziert (oder erweitert) werden kann. Bei Verstößen gegen die Art der Beweiswirkung dürfte eine solche Anpassung regelmäßig der Vorzug zu gewähren sein.
Rz. 129
Da die Ermittlung der maßgeblichen Beweiswirkungen im Annahmestaat durch die annehmende Stelle (vgl. § 293 ZPO) mit Schwierigkeiten verbunden sein kann, sieht Art. 59 Abs. 1 Uabs. 2 EuErbVO insoweit eine Erleichterung vor. Die ausstellende Behörde kann auf Ersuchen eines Beteiligten das Formblatt (Anhang II der EuErbVO-Formblätter) ausstellen, das die formelle Beweiswirkung der Urkunde beschreibt. Die Behörde ist nach Art. 59 Abs. 2 Uabs. 2 EuErbVO jedoch nicht verpflichtet, diesem Ersuchen zu entsprechen. Die Gerichte und Behörden des Annahmestaates sind dabei aber nicht an die Beschreibung der Beweiswirkung der Urkunde in dem Formblatt gebunden; sie können diese auch anders beurteilen.