Rz. 158
Schenkungen bleiben unberücksichtigt (zur Ausnahme siehe Rdn 192 ff.), d.h. sie sind nicht ergänzungspflichtig, wenn zur Zeit des Erbfalls zehn Jahre seit der Leistung des verschenkten Gegenstandes verstrichen sind (§ 2325 Abs. 3 S. 2 BGB). Es handelt sich bei dieser Zeitschranke um eine Ausschlussfrist, die im Prozess von Amts wegen zu beachten ist. Mit dem Gesetz zur Änderung des Erb- und Verjährungsrechts, das im Wesentlichen am 1.1.2010 in Kraft getreten ist, hat der Gesetzgeber zudem für die zeitliche Befristung von Pflichtteilsergänzungsansprüchen ein Abschmelzmodell in § 2325 Abs. 3 BGB eingefügt. Er selbst spricht von der Umwandlung der starren Ausschlussfrist von zehn Jahren in eine gleitende Frist und nennt dies "Pro-rata-Lösung". Während die Zehn-Jahres-Frist, innerhalb derer Schenkungen der Pflichtteilsergänzung unterliegen, bei Geschenken an den Ehegatten – wie nach altem Recht – nicht vor Auflösung der Ehe zu laufen beginnt, gilt das Abschmelzmodell für alle anderen Schenkungen, sofern der Anwendungsbereich des § 2325 Abs. 1 BGB eröffnet ist. Der Gesetzgeber hat damit sowohl den Anspruch des Pflichtteilsergänzungsberechtigten geschwächt als auch das Vertrauen der Erben in den Bestand des Nachlasses gestärkt, umso länger die Schenkung des Erblassers zurückliegt.
Rz. 159
Die gleitende Ausschlussfrist für Pflichtteilsergänzungsansprüche gilt für Erbfälle, die nach dem 31.12.2009 eingetreten sind. Ist der Erblasser also am Neujahrsmorgen 2010 oder später verstorben, so kommt für Schenkungen des Erblassers innerhalb der letzten zehn Jahre vor seinem Tod das Abschmelzmodell zur Geltung. Für Todesfälle bis einschließlich 31.12.2009 war hingegen das alte Recht anzuwenden. Es kam also für die Anwendung der Abschmelzung von Schenkungen nicht darauf an, wann die Schenkungen erfolgt sind. Maßgeblich war und ist allein der Todeszeitpunkt.
Rz. 160
Nach der alten Regelung wurden Schenkungen also in voller Höhe berücksichtigt, wenn seit der Schenkung noch keine zehn Jahre verstrichen waren. Dabei spielte es grundsätzlich keine Rolle, ob der Erblasser am Tag nach der Schenkung oder am letzten Tag der Zehn-Jahres-Frist verstirbt, sieht man einmal von den Besonderheiten der Bewertung des verschenkten Vermögens gem. § 2325 Abs. 2 BGB ab (siehe Rdn 94 ff.). Es galt also ein Alles-oder-Nichts-Prinzip. Mit der aktuellen Formulierung des § 2325 Abs. 3 S. 1 BGB ("Die Schenkung wird innerhalb des ersten Jahres vor dem Erbfall in vollem Umfang, innerhalb jedes weiteren Jahres vor dem Erbfall um jeweils ein Zehntel weniger berücksichtigt. Sind zehn Jahre seit der Leistung …") versucht der Gesetzgeber den Spagat zwischen den Interessen des Pflichtteilsergänzungsberechtigten und den Interessen des Erben und des Beschenkten. Sein Motiv ist klar: Der Erbe soll von der Last des "Alles oder Nichts" befreit werden, und dem Beschenkten soll sukzessive die Unsicherheit genommen werden, ob er sich des Erwerbs sicher sein könne. Der Gesetzgeber verweist in diesem Zusammenhang auf die häufige Klage von gemeinnützigen Stiftungen oder Vereinen über ihre fehlende Planungssicherheit. Mit der heutigen Regelung glaubt der Gesetzgeber die ursprüngliche Idee, Streit über die Benachteiligungsabsicht des Erblassers durch eine generalisierende Fristenlösung zu vermeiden, immer noch gewahrt.
Rz. 161
Seit 2010 werden also nur Schenkungen innerhalb eines Jahres vor dem Tod des Erblassers vollständig in die Pflichtteilsergänzungsberechnung einbezogen, d.h. vollständig dem Nachlass hinzugerechnet. Schenkungen, die länger als ein Jahr, aber weniger als zwei Jahre vor dem Tod geleistet wurden, führen zu einer Reduzierung des Hinzurechnungsbetrages um 1/10 auf 9/10, im dritten Jahr um 2/10 auf 8/10, bis schließlich Schenkungen im zehnten Jahr vor dem Erbfall noch mit 1/10 bei der Pflichtteilsergänzung zu berücksichtigen sind. Unter "Leistung" ist i.d.R. der Vollzug der Schenkung, d.h. der dingliche Leistungserfolg, zu verstehen (siehe ausführlich Rdn 165 ff.).
Rz. 162
Sprachlich ist die Formulierung des § 2325 Abs. 3 S. 1 BGB "Die Schenkung wird innerhalb des ersten Jahres vor dem Erbfall … berücksichtigt" zwar missglückt. Gemeint ist natürlich, dass Schenkungen innerhalb des ersten Jahres vor dem Tod des Erblassers vollständig im Erbfall berücksichtigt werden. Doch scheint zumindest der erwünschte Mechanismus klar zu werden.
Beispiel
Der verwitwete Erblasser hat im April 2019 einer gemeinnützigen Stiftung 500.000 EUR zugewendet. Er verstirbt Mitte März 2024 und hinterlässt lediglich einen Sohn. Testamentarische Alleinerbin ist die Stiftung, im Nachlass befinden sich 100.000 EUR. Nach altem Recht hätte der Sohn einen Pflichtteilsanspruch i.H.v. 50.000 EUR und einen Pflichtteilsergänzungsanspruch i.H.v. 250.000 EUR, d.h. insgesamt 300.000 EUR, geltend machen können. Nach aktuellem Recht verbleibt es zwar bei den 50.000 EUR Pflichtteilsanspruch, doch reduziert sich die pflichtteilsrelevante Zuwen...