Rz. 231
Hat der Erblasser nach § 2315 BGB ein Geschenk für anrechnungspflichtig erklärt, so muss sich der Zuwendungsempfänger die Zuwendung auf den Gesamtbetrag von ordentlichem Pflichtteil und Ergänzung anrechnen lassen (§ 2327 Abs. 1 S. 2 BGB). Dem Berechtigten soll aus diesem Gesamtbetrag lediglich noch ein um den Wert der anzurechnenden Schenkung verminderter Pflichtteil zustehen. Denn er hat mit dem anzurechnenden Wert der Schenkung ja bereits eine Vorausleistung auf seinen Pflichtteilsanspruch erhalten. Jedoch regelt das Gesetz nicht, wie diese Anrechnung zu erfolgen hat. Rechtsprechung zu dieser Frage scheint zu fehlen. In der Literatur besteht im Ansatz Übereinstimmung insoweit, dass keine Doppelanrechnung erfolgen darf. Umstritten ist jedoch, ob das Eigengeschenk vom ordentlichen Pflichtteil oder dem Ergänzungsanspruch abzuziehen ist. Dies ist deshalb von Bedeutung, weil sich der Pflichtteilsberechtigte wegen des ordentlichen Pflichtteils nur an den Nachlass halten kann, beim Ergänzungsanspruch aber subsidiär ein Anspruch nach § 2329 BGB besteht.
Rz. 232
In der Literatur werden vor allem vier verschiedene Berechnungsmethoden vertreten, die jedoch regelmäßig zum gleichen Ergebnis führen dürften, weshalb nachfolgend nur zwei skizziert werden:
Rz. 233
(1) Beck geht in seinen Überlegungen, die ursprünglich von Dieckmann stammen, zunächst vom Grundfall des § 2327 Abs. 1 S. 1 BGB aus, wonach sich der Ergänzungspflichtteil aus der Differenz zwischen dem nach § 2327 Abs. 1 S. 1 BGB errechneten Gesamtpflichtteil (abzüglich des Eigengeschenks) und dem nach §§ 2303, 2311 BGB ermittelten ordentlichen Pflichtteil ergibt. Im Fall einer Anrechnung nach § 2315 BGB ändert sich für ihn nichts an der Errechnung des Gesamtpflichtteils nach § 2327 Abs. 1 BGB, doch hiervon zieht er nunmehr den jetzt nach § 2315 BGB verkürzten ordentlichen Pflichtteil ab. Das Berechnungsverfahren entspreche also im Wesentlichen dem nach § 2327 Abs. 1 S. 1 BGB.
Beispiel
Der Erblasser hinterlässt einen Nachlass von 50.000 EUR. Erbe ist der Freund F. Der einzige Pflichtteilsberechtigte S ist enterbt. Schenkungen erfolgten an D i.H.v. 40.000 EUR und an S (anrechnungspflichtig) i.H.v. 50.000 EUR.
Gesamtpflichtteil für S: (50.000 EUR + 40.000 EUR + 50.000 EUR) : 2 = 70.000 EUR
Bereinigter Gesamtpflichtteil von S: 70.000 EUR – 50.000 EUR = 20.000 EUR
Ordentlicher Pflichtteil für S unter Berücksichtigung der Anrechnung: (100.000 EUR [§ 2315 Abs. 2 BGB!] : 2) – 50.000 EUR = 0 EUR
Ergänzungspflichtteil: 20.000 EUR – 0 EUR = 20.000 EUR
Rz. 234
In einer Formel (Abkürzungen wie vor):
Rz. 235
(2) Bei Staudinger/Herzog führt die Anrechnung dazu, dass dem Nachlass alle Fremd- und Eigenschenkunge hinzugerechnet werden, daraus der Pflichtteilsanspruch des Ergänzungsberechtigten gebildet und hiervon wiederum die Eigenschenkung in Abzug gebracht wird. Das ergibt in dem vorherigen Beispiel (siehe Rdn 233) folgende Berechnung:
Beispiel
Nachlass und Summe aller Schenkungen: (50.000 EUR + 50.000 EUR + 40.000 EUR) = 140.000 EUR
Berechnung des Gesamtpflichtteils: 140.000 EUR × ½ = 70.000 EUR
abzüglich Eigenschenkung: 50.000 EUR = 20.000 EUR
Rz. 236
Nach Kasper soll die ursprünglich von Dieckmann vorgeschlagene Berechnungsweise die sachgerechteste sein, da sie sowohl der Pflichtteilsanrechnung nach § 2315 BGB als auch der Pflichtteilsergänzung in vollem Umfang Rechnung trage.
Rz. 237
Das Eigengeschenk ist nach h.M. mit dem sich aus § 2315 Abs. 2 S. 2 BGB ergebenden Wert zum Zeitpunkt der Schenkung anzusetzen und nicht mit dem des § 2325 Abs. 2 BGB, d.h. ohne Anwendung des Niederstwertprinzips, da für die Anrechnung auf den ordentlichen Pflichtteil schwerlich andere Bewertungsgrundsätze maßgebend sein könnten als für die Anrechnung auf den Ergänzungspflichtteil.