Rz. 165
Der Wechsel vom Alles-oder-Nichts-Prinzip zum Abschmelzmodell hat jedoch nichts an der umstrittenen Frage geändert, wie das Tatbestandsmerkmal "Leistung" ausgelegt werden muss. Ist für den Fristbeginn auf den Leistungserfolg, die Leistungshandlung, einen Zeitpunkt dazwischen oder aber auf andere, mehr an einer wirtschaftlichen Betrachtung ausgerichtete Kriterien abzustellen? Der BGH hat die Begründungen des Gesetzgebers dahingehend interpretiert, dass es auf eine wirtschaftliche Betrachtungsweise ankomme und versucht, die Frage nach der angemessenen Auslegung möglichst mit Hilfe des Zwecks der Ausschlussfrist (Schutz der Pflichtteilsberechtigten contra Schutz der Erben vor überraschenden Ergänzungsforderungen) zu beantworten. Im Kern hat er zumindest für den Fall einer Grundstücksschenkung unter Vorbehalt des Nießbrauchs für den Schenker entschieden, dass eine Leistung der Schenkung noch nicht vorliegen solle, wenn der Schenker deren Folgen noch nicht zu tragen und deren Genuss (dieser Ausdruck stammt vom Gesetzgeber!) noch nicht zu entbehren hatte. Vielmehr sei eine wirtschaftliche Ausgliederung des Geschenks aus dem Vermögen des Erblassers erforderlich, was der BGH bei einem Nießbrauch des Schenkers verneinte. Diese Entscheidung zum Nießbrauch bedeutete die Abkehr von der Auffassung, dass es bereits genüge, wenn der Erblasser alles getan habe, was von seiner Seite aus für den bloßen eigentumsrechtlichen Erwerb durch den Beschenkten erforderlich ist. Spätestens mit diesem Urteil verbreitete sich als Schlagwort und Voraussetzung für den Beginn der Zehn-Jahres-Frist der Begriff "Genussverzicht". Diese Genussrechtsprechung haben Teile des Schrifttums auch für andere Fallgruppen pauschal übernommen und sich dabei mehr auf das zusammenfassende Ergebnis des BGH als die einzelnen Kernargumente gestützt. Die Folge waren und sind große Unsicherheiten in der Praxis, wann in Einzelfällen nun die zehnjährige Ausschlussfrist gem. § 2325 Abs. 3 S. 2 BGB beginnt. Leider sind besonders Notare dazu übergegangen, in Übergabeverträgen vorschnell auf den angeblich fehlenden Beginn der zehnjährigen Ausschlussfrist hinzuweisen, ohne den Einzelfall am Maßstab der wenigen höchstrichterlichen Rechtsprechung zu prüfen. Sogar von richterlicher Rechtsfortbildung wurde schon gesprochen, obwohl der BGH bislang überhaupt nur eine Fallgruppe (Nießbrauch bei Immobilien, zumal in einem besonderen Fall) so "beschieden" hat. So gibt es keine höchstrichterliche Entscheidung zu Schenkungen von Unternehmensbeteiligungen und der Frage des Fristbeginns nach § 2325 Abs. 3 BGB. Um so erfreulicher ist, dass der BGH für eine besonders umstrittene Fallgruppe für etwas mehr Klarheit sorgen konnte, nämlich zum Fristbeginn bei Immobilienschenkungen unter Vorbehalt eines Wohnungsrechts, den der BGH trotz Wohnungsrechtsvorbehalts bejahte. Da sich der BGH in seinen Entscheidungen, insbesondere zum Nießbrauchvorbehalt, wiederum gerade auf die Motive des Gesetzgebers stützen wollte, sollen vorab die wichtigsten Ausführungen des Gesetzgebers im Zusammenhang mit der Ausschlussfrist zusammengefasst werden.
Rz. 166
Die zehnjährige Ausschlussfrist soll der Rechtssicherheit dienen und wird vom Gesetzgeber damit gerechtfertigt, dass sich der Pflichtteilsberechtigte nach dieser Zeit auf die dadurch eingetretene Vermögensminderung eingestellt hat und bei derartigen Zuwendungen eine reine Benachteiligungsabsicht ausgeschlossen werden könne. Das Recht des Beschenkten dürfe nicht zu lange im Schwebezustand gehalten werden. Auch der Erblasser habe dann so lange die Folgen der Schenkung selbst tragen müssen, was zugleich Sicherheit dafür biete, dass der Erblasser bei der Vornahme der Schenkung sich von guten Gründen und nicht von der Absicht habe leiten lassen, die Pflichtteilsberechtigten zu benachteiligen. Mit Blick auf die Sondervorschrift für Ehegatten (siehe Rdn 192) glaubte der Gesetzgeber, dass der verschenkte Gegenstand tatsächlich gemeinschaftliches Vermögen der Ehegatten bleibe, der Schenker also während der Ehe auch nach der Schenkung den Genuss desselben nicht zu entbehren habe. Interessant ist der Umstand, dass sich der Gesetzgeber ausdrücklich dagegen ausgesprochen hat, bei vorbehaltenen Nutzungen oder einem Recht zum Widerruf der Schenkung den Lauf der Frist erst mit Erlöschen der Nutzungsrechte oder dem Verzicht auf das Recht zum Widerruf beginnen zu lassen.
Rz. 167
An den nachfolgenden Fallgruppen zeigt sich, wie problematisch und unscharf dagegen die im Jahre 1994 vom BGH zum Nießbrauch ergangenen Überlegungen sind, mit dem er die klare Linie des Gesetzgebers verlassen hat. Allerdings hat die Entscheidung zum Wohnungsrechtsvorbehalt aus 2016 zumindest für eine Fallgruppe etwas Klarheit gebracht.