Rz. 210
§ 2326 S. 2 BGB greift auch ein, wenn der Pflichtteilsberechtigte Vermächtnisnehmer wird (siehe den Wortlaut von § 2326 S. 2 BGB: "hinterlassen"). Mit der Hälfte des Erbteils ist nicht gemeint, dass der Pflichtteilsberechtigte (Mit-)Erbe werden muss. Vielmehr ist die Hälfte als Bezugsgröße und Vergleichsbasis für die Anrechnung auf den Pflichtteilsergänzungsanspruch zu verstehen. Es reicht für die Anrechnung auf den Pflichtteilsergänzungsanspruch also aus, wenn der Pflichtteilsberechtigte aus dem Nachlass "nur" ein Vermächtnis erhält. Daraus ergibt sich:
Rz. 211
Erhält der Pflichtteilsberechtigte ein Vermächtnis, dessen Wert hinter dem des ordentlichen Pflichtteils zurückbleibt, so erhält er bei dessen Annahme grundsätzlich
Wenn der Pflichtteilsberechtigte zwar auch (Mit-)Erbe wird und zusätzlich das erwähnte (Voraus-)Vermächtnis erhält, er jedoch nur die Erbschaft ausschlägt, so gilt auch hier das unter Rdn 208 ausgeführte. Als "Hinterlassen" gilt nicht nur das angenommene Vermächtnis, sondern auch der ausgeschlagene Erbteil, der in die Berechnung einzubeziehen ist. Hätte der Pflichtteilsberechtigte mit dem Vermächtnis und dem ausgeschlagenen Erbteil wertmäßig die Hälfte des gesetzlichen Erbteils oder weniger erhalten, so kann der Pflichtteilsberechtigte also das Vermächtnis, den Pflichtteilsrestanspruch gem. § 2307 Abs. 1 S. 2 BGB sowie im Übrigen den vollen Pflichtteilsergänzungsanspruch gem. § 2326 S. 1 BGB verlangen.
Rz. 212
Soweit der Vermächtniswert den Wert des ordentlichen Pflichtteils übersteigt, greift § 2326 S. 2 BGB ein. Demnach erhält der Pflichtteilsberechtigte
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das Vermächtnis und |
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den Pflichtteilsergänzungsanspruch, jedoch nach § 2326 S. 2 BGB gekürzt. |
Ist der Pflichtteilsberechtigte auch Erbe geworden, so sind neben dem Vermächtnis auch der Erbteil im Rahmen der Bemessung des Werts, der dem Pflichtteilsberechtigten hinterlassen wurde, zu berücksichtigen. Wenn der Pflichtteilsberechtigte zwar auch (Mit-)Erbe wird und zusätzlich das erwähnte (Voraus-)Vermächtnis erhält, er jedoch nur die Erbschaft ausschlägt, so gilt auch hier das unter Rdn 208 und Rdn 211 ausgeführte. Als "Hinterlassen" gilt demnach wieder nicht nur das angenommene Vermächtnis, sondern auch der ausgeschlagene Erbteil, der in die Berechnung einzubeziehen ist. Hat der Pflichtteilsberechtigte mit dem Vermächtnis und dem ausgeschlagenen Erbteil wertmäßig mehr als die Hälfte des gesetzlichen Erbteils erhalten, so kann der Pflichtteilsberechtigte also lediglich das Vermächtnis sowie den gem. § 2326 S. 2 BGB gekürzten Pflichtteilsergänzungsanspruch verlangen. Die Kürzung des Pflichtteilsergänzungsanspruchs muss sich also auf die Summe des Werts des Vermächtnisses und der ausgeschlagenen Erbschaft beziehen.
Rz. 213
Auch hier werden Beschränkungen und Beschwerungen des Vermächtnisses nicht berücksichtigt (arg. § 2307 Abs. 1 S. 2 BGB), mindern also nicht den Kürzungsbetrag nach § 2326 S. 2 BGB. Die Vermächtnisausschlagung berührt den Pflichtteil zwar nicht (§ 2307 Abs. 1 S. 1 BGB). Wenn es sich aber um ein unbelastetes und unbeschränktes Vermächtnis handelt, folgt gem. des Wortlauts des S. 2 – wie bei der Erbschaft – daraus, dass der Anrechnungsbetrag nicht vermindert und damit der Ergänzungspflichtteil nicht erhöht wird. Denn § 2326 BGB soll nur den Pflichtteilsschutz komplementieren, ohne dabei einen Anspruch auf eine ungekürzte Nachlassbeteiligung in Geld zu gewähren.
Rz. 214
Auch hier muss man nach den bei der Erbschaft aufgestellten Regeln (siehe Rdn 196) die Möglichkeit der Anfechtung der Annahme des Vermächtnisses zur Geltendmachung des vollen Pflichtteils zulassen (§ 119 Abs. 2 BGB), wenn sich erst später herausstellt, dass ergänzungspflichtige Schenkungen vorgenommen wurden.
Rz. 215
Praxishinweis
Im Gegensatz zum Pflichtteilsergänzungsanspruch kann das Vermächtnis unter Testamentsvollstreckung gestellt oder mit einem Nachvermächtnis belastet werden. Hierdurch soll es möglich sein, das Vermächtnis dem Zugriff des Sozialhilfeträgers zu entziehen.