Rz. 42
Soweit das Vorliegen einer Schenkung ganz oder teilweise zu bejahen ist, stellt sich die Frage nach dem ergänzungspflichtigen Gegenstand der Schenkung. Hinsichtlich der Pflichtteilsergänzung bei einer Kapitallebensversicherung auf den Todesfall mit einer widerruflichen Bezugsberechtigung hat der IV. Senat des BGH mit zwei Entscheidungen vom 28.4.2010 für Klarheit in einer stark umstrittenen Frage gesorgt. Der BGH hat der bis dahin als herrschend zu bezeichnenden Auffassung, wonach der Pflichtteilsergänzung nur die vom Erblasser entrichteten Prämien unterlagen, eine deutliche Absage erteilt. Vielmehr hat der BGH in seinen beiden Entscheidungen aus 2010 den Verkehrswert der geleisteten Schenkung als maßgeblich bezeichnet. In Bezug auf Lebensversicherungen mit einer widerruflichen Bezugsberechtigung sei dies zwar regelmäßig der Rückkaufswert der Versicherung im Zeitpunkt des Todes des Erblassers. Gleichwohl bestehe die Möglichkeit, einen vom Rückkaufswert abweichenden Verkehrswert nachzuweisen. Letztlich hat sich der BGH jedoch für den Rückkaufswert als Wert der Lebensversicherung entschieden, den der Erblasser in der letzten juristischen Sekunde seines Lebens für sein Vermögen hätte realisieren können. Mit dieser zumindest formaljuristisch exakt anmutenden Position hat der BGH sich nicht von pflichtteilsrechtlichen Gerechtigkeitserwägungen leiten lassen, etwa der Überlegung, dass der Verkehrswert der Schenkungsleistung bereits eine Sekunde nach dem Versterben wesentlich höher ist. Letzteres ist kein Zufall, sondern bereits zu Lebzeiten des Erblassers vertraglich fixiert. In einer früherenAuflage wurde hier auf die Ungereimtheiten hingewiesen, die sich aus einem Vergleich solcher Kapitallebensversicherungen mit anderen Verträgen zugunsten Dritter ergeben (beispielsweise die typischen Bankprodukte in Drittkonstellationen mit Widerrufsrecht und unterschiedlichen Leistungshöhen vor und nach dem Tod des Erblassers), bei denen auch der BGH wohl nicht auf die Idee käme, statt dem tatsächlich geschuldeten Auszahlungsbetrag nur den zu Lebzeiten des Erblassers vom Versprechenden geschuldeten Betrag anzusetzen. Mit dem Abstellen letztlich auf den Rückkaufswert als Regelfall des Verkehrswerts einer Kapitallebensversicherung hat der BGH die bis 2010 sich im Vordringen befindliche Meinung, angespornt durch eine insolvenzrechtliche Entscheidung des IX. Senats des BGH vom 23.10.2003, zurückgedrängt. Denn nach dieser Meinung sollte die gesamte ausgezahlte Versicherungssumme (einschließlich des sog. Risikoanteils, der bei einem baldigen Tod nach Versicherungsbeginn sehr groß sein kann) der Pflichtteilsergänzung unterworfen werden. Aus Sicht der Praxis ist der Meinungsstreit mit den beiden Urteilen des BGH aus 2010 zugunsten der Rückkaufswertlösung als Verkehrswert im Todeszeitpunkt entschieden. Das ändert aber nichts daran, dass hier mit guten Argumenten unter Bezugnahme auf das Schutzgut "Pflichtteil" weiter für eine Bezugnahme auf das Vermögen abgestellt wird, das dem Pflichtteilsberechtigten vorenthalten wird. Das ist nicht der Rückkaufswert in der Sekunde vor dem Tod des Erblassers, sondern die Summe, die an den Bezugsberechtigten ausgezahlt wird.
Rz. 43
Hier soll kurz die Argumentation des BGH nachgezeichnet werden, da sie möglicherweise auch für andere Streitfragen aufschlussreich sein könnte. In einem ersten Schritt betrachtet der BGH die Vermögensflüsse in dem Dreiecksverhältnis eines Lebensversicherungsvertrags: Das ist zum einen die Prämienzahlung des Erblassers an die Versicherung. Das ist zum anderen die Auszahlung der Versicherungssumme an den Begünstigten. Im Valutaverhältnis zwischen dem Erblasser und dem Bezugsberechtigten liege eine mittelbare Schenkung vor, indem der Erblasser dem Beschenkten einen Gegenstand durch einen Dritten verschafft, ohne selbst zuvor Eigentümer geworden zu sein. Bei einer Lebensversicherung ist das der aufschiebend auf den Tod des Erblassers bedingte Leistungsanspruch aus dem Lebensversicherungsvertrag, der also erst mit dem Tod des Erblassers unmittelbar im Vermögen des Bezugsberechtigten entsteht.
Nach Auffassung des BGH sei nun Gegenstand der Schenkung im Valutaverhältnis grundsätzlich der gesamte Anspruch auf die Versicherungsleistung, den der Erblasser dem Bezugsberechtigten zuwenden wollte. Würde man stattdessen auf die gezahlten Versicherungsprämien abstellen, wären nur diese kondiktionsfest, so dass der die Prämien übersteigende Teil der Versicherungssumme von den Erben kondiziert werden könnte. Schon dieses vom Erblasser sicher nicht gewollte Ergebnis spricht nach dem BGH gegen den Rückgriff auf die Versicherungsprämien als Gegenstand der Schenkung.
Rz. 44
Dieser Gegenstand der Schenkung ist für den BGH aber noch nicht zwingend bei der Berechnung des Pflichtteilsergänzungsanspruchs zugrunde zu legen. Im Rahmen der Rechtsfolge des § 2325 Abs. 1 BGB sei vielmehr auf den Gegenstand abzustellen, um den das Vermögen des Erblassers ...