(1) Grundzüge: Erwerb am Nachlass vorbei
Rz. 36
Diese Gestaltungen sind im täglichen Leben weit verbreitet und werden von entsprechenden Produktanbietern z.B. mit dem Argument beworben, dass man dadurch Erbscheinskosten verringern kann. Teilweise wird auch behauptet, dass sich damit Pflichtteilsansprüche "ersparen" ließen. Im Rahmen des Pflichtteilsergänzungsanspruchs stellen sich dabei vor allem folgende Fragen:
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Unterliegen diese Zuwendungen dem ordentlichen Pflichtteilsanspruch oder dem "schwächeren" Pflichtteilsergänzungsanspruch? |
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Was ist die exakte Bemessungsgrundlage für die Berechnung des Pflichtteilsergänzungsanspruchs: die vom Erblasser gezahlten Prämien, die an den Bezugsberechtigten gezahlte Versicherungssumme oder gar ein Zwischenwert? |
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Wann beginnt die Zehn-Jahres-Frist gemäß § 2325 Abs. 3 BGB zu laufen? |
Rz. 37
Besteht ein Vertrag zugunsten Dritter auf den Todesfall (§§ 328, 331 BGB), so wird dem Berechtigten ohne Einhaltung der erbrechtlichen oder sonstigen Formvorschriften mit dem Tod des Versprechensempfängers (z.B. des Versicherungsnehmers bei einer Lebensversicherung) ein schuldrechtlicher Anspruch gegen den Versprechenden (Bank, Lebensversicherungsgesellschaft) zugewandt. Es handelt sich daher nicht um einen Erwerb aus dem Nachlass, sondern um eine lebzeitige Zuwendung zugunsten Dritter, bei der die Versicherungssumme direkt an den Begünstigten fällt, ohne auch nur für eine juristische Sekunde Bestandteil des Nachlasses zu werden. Trotz der Ähnlichkeit mit dem Erwerb von Gesellschaftsbeteiligungen im Wege der Sondererbfolge ist daher daran festzuhalten, dass eine solche Zuwendung grundsätzlich nur dem Ergänzungsanspruch und nicht dem ordentlichen Pflichtteil unterliegt.
(2) Nachlasszugehörigkeit
Rz. 38
Ausnahmsweise ist jedoch eine Nachlasszugehörigkeit und damit das Eingreifen des ordentlichen Pflichtteilsanspruchs zu bejahen. Dies ist zum einen der Fall, wenn keine wirksame Benennung eines Drittbegünstigten (Bezugsberechtigten) vorliegt, da dann die Forderung mangels eines besonderen Berechtigten den Erben als Nachlassbestandteil zusteht. Zu beachten sind hierbei aber bei Lebensversicherungen die §§ 159 Abs. 1, 160 Abs. 2 VVG: Wenn ausdrücklich die Zahlung an die Erben vereinbart ist, so erwerben diese wohl im Zweifel den Anspruch auf die Versicherungssumme nicht aufgrund Erbrechts, sondern als Bezugsberechtigte infolge Versicherungsvertrages und damit nach § 331 BGB außerhalb des Nachlasses. Zudem kann sich eine ganze oder wenigstens teilweise Nachlasszugehörigkeit auch bei einer wirksamen Bestimmung des Drittberechtigten bei einer kreditsichernden Lebensversicherung ergeben – ein in der Praxis häufig auftretendes Problem. Das Trennungsdenken mit der Unterscheidung zwischen Nachlasserwerb einerseits und Erwerb aufgrund Vertrages zugunsten Dritter andererseits kann hier für den Pflichtteilsberechtigten zu nicht tragbaren Ergebnissen führen. Dem Pflichtteilsberechtigten könnten mit formaler Argumentation Nachlassverbindlichkeiten als Abzugsposten bei der Berechnung des Pflichtteilsanspruchs entgegengehalten werden, die rein wirtschaftlich gesehen mit dem Erbfall erloschen sind, wie Klingelhöffer thematisiert hat.
Beispiel
M hat 100.000 EUR Verbindlichkeiten. Zu deren Sicherung hat er an die Bank B-AG seine Rechte aus der Lebensversicherung mit einer Versicherungssumme von 90.000 EUR abgetreten, für welche eigentlich seine Ehefrau F Bezugsberechtigte ist. In der Abtretungserklärung wird jedoch die Bezugsberechtigung "für die Dauer der Abtretung" widerrufen, soweit sie den Rechten der B-AG entgegenstehen. Kurz danach verstirbt M. Er hinterlässt nur eine Eigentumswohnung im Wert von 120.000 EUR, die jedoch noch mit den genannten Verbindlichkeiten belastet ist. In einem Testament hat er seine Ehefrau F zur Alleinerbin eingesetzt. Sein einziges Kind K (aus der ersten Ehe) macht gegen die Erbin seinen Pflichtteilsanspruch geltend.
Erbin F berechnet den Pflichtteil wie folgt: 120.000 EUR (Eigentumswohnung) – 100.000 EUR (Verbindlichkeiten) = 20.000 EUR : 4 = 5.000 EUR. Die Verbindlichkeiten seien echte Erblasserschulden. Die Lebensversicherung könne hierauf nicht angerechnet werden, da sie außerhalb des Nachlasses erworben werde. Auch ein Pflichtteilsergänzungsanspruch scheide diesbezüglich aus, da es bei ihr an einer direkten Bereicherung fehle: Die gesamte Summe sei sofort und direkt an die B-AG ausgezahlt worden.
Kind K berechnet den Pflichtteil wie folgt: 120.000 EUR (Eigentum...